Zwangsprostitution Lina und die Frauenhändler - mitten unter uns

Sie ist 24, als sie die Ukraine verlässt, um in Deutschland ein besseres Leben zu finden. Doch sie endet als Zwangsprostituierte in Berlin: missbraucht, gedemütigt, rechtlos. Lina kann zwar ihren Zuhältern entkommen, doch die Heimreise ist ihr verwehrt - die Arme der Mädchen-Mafia sind lang.

Die Oma sagte: Fahr nicht, mein Kind. Sie werden dir wehtun. Es ist kein gutes Land. Lina sagte: Ach, Babuschka, das sind doch die alten Geschichten. Ich werde Geld verdienen. Und in drei Monaten bin ich zurück. Bei sich dachte sie: Und Oma, wenn wir deine kleine Rente nicht hätten, für die Zwangsarbeit damals in Deutschland, dann wären wir doch alle längst verhungert.

Gern fuhr die 24-Jährige nicht. Ihre kleine Tochter Susa würde sie vermissen. Drei Monate sind unendlich lang für ein sechsjähriges Mädchen. Sie würde sie zurücklassen müssen, bei Babuschka, die schon sie großgezogen hatte und die inzwischen 85 Jahre alt war. Lina, geboren und aufgewachsen in einer Großstadt im Süden der Ukraine, kannte Deutschland nur aus dem Fernsehen. Aber es sah aus wie ein gutes Land.

Und es musste sein. Lina hatte ja alles versucht. Sie hatte Altmetall verkauft und auf dem Wochenmarkt gestanden, unter freiem Himmel mit Obst gehandelt für weniger als einen Euro am Tag. Sie hatte ihre letzten Sachen verkauft. Das Kind wuchs. Das Geld reichte nicht.

Klein ist Lina und zerbrechlich, mit langen braunen Haaren und entschlossenen Augen. Mit 18 hatte sie Susa bekommen, ein Wunschkind. Sie studierte russische Literatur und Psychologie. Am liebsten hätte sie mit verhaltensauffälligen Kindern gearbeitet. Aber ohne Geld und ohne Beziehungen gelangt in der Ukraine kaum jemand an einen Job, in dem man überleben kann.

Die Anzeige war ein Wink des Schicksals gewesen. "Suchen Männer und Frauen bis 42 Jahre für die Arbeit im Westen", stand in der Zeitung. Arbeit und Westen - Worte wie Milch und Honig für junge Frauen wie Lina und Nadia, ihre beste Freundin. Sie kannten sich seit Kindertagen. Dieselben öden Straßen, an denen sie aufwuchsen, dieselben quadratischen Parks, in denen sie träumten, dieselben Sorgen ums tägliche Leben. Die beiden warteten keinen Tag, um sich zu melden.

Der Mann und die Frau, mit denen sie sich trafen, schienen seriös. Sie erzählten keine Märchen von Pelzen und Diamanten. Sie sprachen von langen Tagen und harter Arbeit, die Deutsche nicht machen wollten. Aber auch davon, dass sie legal im Westen arbeiten würden, als Serviererin, als Kindermädchen oder als Putzfrau. Dass sie die Arbeitsstelle wechseln könnten, wenn ihnen der Job nicht gefiele. Dass sie nach drei Monaten wieder daheim wären. Und dass sie mehr als zwei ukrainische Jahresgehälter zurückbringen würden, trotz der "Gebühren" für Vermittlung und Reise.

Wir werden gehen, beschlossen die beiden, und wenn wir zurück sind, dann fahren wir mit unseren Kindern ans Meer. Das erste Mal im Leben. An jenem Morgen im Februar 2003 brachte Lina ihre Susa in die Schule. Sie wartete, bis die Kleine im Gebäude war, sich noch einmal umdrehte und winkte, dann holte Lina ihre Tasche. Zwei Stunden später war sie auf dem Weg nach Deutschland.

Von hier an wird der Lebensweg von Lina zu einer Geschichte, wie sie von unzähligen anderen Frauen auch erzählt werden könnte. Von Frauen, deren Schicksal als Zwangsprostituierte Anfang des Jahres in Deutschland Schlagzeilen machte, während des Streits um Volmer-Erlass und Visa-Erschleichung. Es war nur ein kurzes, grelles Ausleuchten eines Menschenhandels, der seit Öffnung des Ostblocks floriert.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Er floriert bis heute, nun wieder im Dunkeln. Die meisten Schleuser nutzen lang eingespielte Routen, haben feste Abnehmerkreise, seit Jahren schon. Im Vergleich mit legal eingereisten Prostituierten sind "illegal eingereiste Frauen die leichteren Opfer", sagt Nivedita Prasad von der Berliner Organisation Ban Ying, die seit 14 Jahren Opfer von Menschenhandel betreut. "Sie sind noch wehrloser, noch rechtloser, und wenn etwas schief geht, weiß niemand, dass sie überhaupt da sind."

Für Lina wurde es eine lange Reise. Mit dem Bus zu einem Sammelpunkt in der Ukraine. Mit dem Zug, dann wieder mit dem Bus, nach zwei Tagen endlich in Polen. Dort wurden ihre Pässe eingesammelt. Angeblich für die Hotelanmeldung und das Visum, das es in Polen geben sollte. Zehn lange Tage liefen sie Furchen in den Teppich des schäbigen Hotels. Sie waren Männer und Frauen, manche mit kleinen Kindern, eine Frau hochschwanger. Ab und zu kamen Neue. Irgendwann waren sie 40 Leute. Als sie erfuhren, dass es doch ohne Visum weitergehen sollte, war es zum Umkehren zu spät. Sie hatten keine Pässe mehr, sie hatten kein Geld, um die Reise zu bezahlen. Und sie wollten auch so gern daran glauben, dass alles gut ausgehen würde. Die anderen beruhigten sie. Es gab welche, die reisten immer so.

Eines Nachts wurden sie

dann in den Wald gefahren, dort stand ein Lkw mit Zuckersäcken. Sie mussten ihre Taschen abgeben. Dann kletterten sie auf die Ladefläche. Die Türen wurden geschlossen. Und wieder Warten. "Unsere Taschen fuhren ohne uns im Kleinbus weiter", sagt Lina. "Ich konnte gar nicht begreifen, dass das keinem auffallen sollte, Gepäck von 40 Leuten in Bussen für 40 Leute - aber ohne die Leute." Als der Wagen an der deutschen Grenze hielt, zitterte sie vor Angst. Heute sagt sie: "Ach, wenn wir doch damals schon erwischt worden wären."

Auf einem Parkplatz in Deutschland warteten die Busse auf sie. Ihre Taschen hatten es auch geschafft. Als die Sonne aufging, erreichten sie eine Plattenbausiedlung am Rand von Berlin.

Zwei Männer brachten Nadia und Lina in eine Wohnung. Der eine war ein Ukrainer, sehr jung, fast schüchtern, der andere ein Deutscher. Sie bemerkten nicht, dass sie eingesperrt wurden, begriffen nicht, dass die Männer ihnen nicht Gesellschaft leisteten, sondern sie bewachten.

Zwei Tage noch war Lina sie selbst. Sie war aufgedreht und stellte lauter Fragen. Wo war denn nun das Café, in dem sie arbeiten konnte? Warum durften sie sich nicht die Stadt ansehen, wo war ein Telefon? Du fragst zu viel, beschied man ihr kühl. Lina bekam Angst. Das war nicht das Deutschland, das sie aus dem Fernsehen kannte.

Am dritten Tag erhielten sie zwei Bier und eine Tafel Schokolade. Zum Valentinstag, an dem man sich beschenkt, weil man sich mag. "Heute geht die Arbeit los", sagte Malik, der Deutsche. Er hatte eine Anzeige aufgegeben: "Sex-Sklavinnen - rund um die Uhr".

Zwei Jahre lang hat Lina versucht, die Wochen, die dann kamen, zu vergessen. Die Vergewaltigungen, die Schläge, die brennenden Zigaretten auf ihrem Körper. Die eleganten Wohnungen, in die sie gefahren wurde, die Bilder von Ehefrau und Kindern auf den Nachttischen ihrer Peiniger, die teuren Hotelzimmer und die wissenden Blicke des Personals an der Rezeption. ´

Die Freier quälten sie mit Gegenständen, die sie nie zuvor gesehen hatte. Einer peitschte sie stundenlang auf allen vieren durch seine Wohnung, einer fesselte sie an einen Pfahl, schlug und trat sie und schrie: "Smile!" - lächle! Einer befestigte Metallklemmen an ihren Brustwarzen und Ketten an ihren Beinen, einer rammte die ganze Hand in ihre Scheide und ballte sie dort zur Faust, und als sie schrie, sagte er lachend: "Ich kann alles mit dir machen, ich habe bezahlt."

Sie versucht, all die Gesichter zu vergessen, die edlen Anzüge, den Geruch des teuren Rasierwassers, das perverse Stöhnen. Sie, die zu Hause in der Ukraine nie getrunken hatte, bat um Whiskey, um die Qualen zu ertragen und sich selbst nicht mehr zu spüren. "Niemand wird dich finden", sagte Malik, wenn sie sich beschwerte. "Ich kann dich weiterverkaufen, an Leute, bei denen es dir schlimmer geht. Ich kann dich töten. Niemand weiß, dass du hier bist."

Die Tage und die Nächte verschwammen. Lina verlor ihr Zeitgefühl. Manchmal wurde sie drei Stunden lang gequält. Am liebsten wäre sie gestorben. Dann dachte sie an Susa. Linas Körper war von Wunden und blauen Flecken übersät. Sie wurde immer dünner. Zum Essen war oft keine Zeit. Die Frauen schmiedeten Fluchtpläne, aber ihr Gefängnis war im sechsten Stock und die Tür immer zugeschlossen. Einmal klingelten Männer an der Tür, als ihre Bewacher nicht da waren. Lina blickte durch den Spion. Vielleicht Polizei? Sollten sie um Hilfe schreien? Aber wenn es doch nur Freunde der Täter waren? Sie blieben stumm vor Angst.

Der Tag, an dem Lina floh,

war nach Wochen der erste, an dem sie auf dem Weg zu einem Freier nur einen Bewacher dabeihatten. Lina ahnte die Chance. Malik brachte sie zu einem Berliner Hotel, Lina ging hinein und gleich wieder heraus, und dann rannte sie. Rannte und rannte. Als sie irgendwo zum Stehen kam, sah sie an sich herunter, sie trug nur diesen albernen Minirock, das Nutten-Outfit, und sie fror. Sie ging in einen Laden, kaufte Jeans und Pullover, zum Glück trug sie ihr ganzes Geld immer bei sich. Sie kaufte sich eine Flasche Whiskey, dann schlich sie in einen Hinterhof, setzte sich auf die Stufen, nahm einen tiefen Schluck und dachte nach.

Was sollte sie jetzt machen? Sie hatte keine Papiere, keine Unterkunft, sie kannte niemanden, sprach kein Deutsch. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Sie kannte die Adresse ihres Gefängnisses nicht. Sie musste Hilfe holen, für Nadia.

Lina hielt ein Taxi an. Mit Händen und Füßen machte sie der Fahrerin klar, dass sie zur ukrainischen Botschaft wollte. Als sie dort ankamen, zahlte sie 17 Euro. Die Taxifahrerin sah sie bloß an, zeigte auf sich und sagte: "Ich warten."

In der Botschaft ließ man sie nicht ein. Durch die Gegensprechanlage schilderte Lina, was geschehen war und dass sie Hilfe brauche, einen Pass, eine Unterkunft, und dass Nadia befreit werden müsse. "Wir können nichts tun", plärrte es aus dem Lautsprecher. "Sie sind selber schuld. Kommen Sie Montag wieder wegen ihrer Freundin, vielleicht machen wir etwas." - "Ich habe geweint und gefleht", sagt Lina. "Ich habe gesagt, ich weiß nicht, wo ich hinsoll, was soll ich denn tun? 'Das Gleiche, was Sie die ganze Zeit getan haben', sagten die."

Die Taxifahrerin brachte das weinende Bündel zur Polizeistation. Lina ging hinein, meldete sich am Empfang. "Pass?", fragte der Beamte routinemäßig." - "Nein", sagte Lina. Der Beamte blickte hoch. "Gehen Sie zum Roten Kreuz", sagte er. Verständnislos blickte Lina ihn an. Der Polizist ging mit ihr auf die Straße, zeigte ihr den Weg zum Roten Kreuz.

Da wenigstens war sie

willkommen. Offenbar hatte der Beamte angerufen und gesagt: Da kommt ein verstörtes Mädchen. Eine russisch sprechende Frau nahm sie entgegen wie ein fehlgeleitetes Postpaket. Endlich durfte sie sich setzen. Sie bekam einen Kaffee. Sie erzählte, was passiert war. Ein klarer Fall für die Polizei. Dann saß sie auf dem Revier, drei Beamte vor ihr und ein Dolmetscher. Sie wollte so viel erzählen, "aber auf einmal", sagt Lina, "war meine Kraft am Ende. Ich konnte nicht mehr". Sie legte den Kopf auf den Tisch. Dann schlief sie ein, während drei erstaunte Polizisten sie anblickten.

Man ließ sie eine Weile schlafen, dann versuchten sie zusammen herauszufinden, wo Nadia war. Es war nicht viel, an das Lina sich erinnern konnte. Eine große Zigarettenwerbung. Eine blaue Wand. Ein Lidl-Supermarkt. Und es waren Flugzeuge am Himmel. Nach einer Stunde hatten sie die Wohnung gefunden.

Die Polizei entschied, erst in der Nacht zu stürmen. Sie wollten sichergehen, dass Nadia da war, und natürlich wollten sie die Täter. Lina brachten sie in ein Frauenhaus. Am nächsten Morgen sahen sich Lina und Nadia wieder, in Freiheit.

Lina und Nadia entschieden sich, auszusagen gegen die Täter, die sie versklavt und gequält hatten. Alles, was sie wussten, erzählten sie der Polizei. Im Herbst 2003 wurden beide Täter verurteilt und sitzen seitdem mehrjährige Haftstrafen ab. Lina lebte eine Weile im Frauenhaus, seit kurzem ist sie bei einer Bekannten untergekommen, einer Russlanddeutschen. Hier könnte die Geschichte zu Ende sein, von Lina, die geträumt hatte von einem bisschen Glück. Und die vom Glück heute nur noch sagen kann, dass sie mit dem Leben davongekommen ist.

Aber die Geschichte

ist nicht zu Ende. Die Hintermänner in der Ukraine fand man nicht. Lina kann nicht zurück. Sie ist in Gefahr, sagt die Polizei, denn sie hat das Gesetz des Schweigens gebrochen. Diese Leute haben ihren Pass. Ihren Schlüssel musste sie bei der Flucht zurücklassen. Sechs Monate später wurde ihre Wohnung in der Ukraine ausgeräumt und verwüstet. Die Täter brachen nicht ein. Sie hatten einen Schlüssel. Einmal passten zwei Männer ihre Tochter ab. "Ist deine Mutter schon zurück?", fragten sie. "Sag ihr, sie wird bezahlen."

Lina lebt seit Prozessende mit einer bis April 2006 befristeten Aufenthaltserlaubnis in Berlin. Sie darf die Stadt nicht verlassen, und sie darf ihr Kind nicht herholen, bis Deutschland sich überlegt hat, was nun werden soll aus ihr. Vielleicht wird ihre Aufenthaltserlaubnis verlängert. Selbst wenn man sie hier behält aus Sicherheitsgründen, darf sie ihr Kind nur nachholen, wenn sie eine Arbeit findet.

Sie ist eine andere geworden. Härter. Misstrauischer. Verschlossen. "Ich glaube nicht mehr daran, dass die Menschen gut sind", sagt sie. "Es fällt mir schwer, auf etwas zu hoffen." Ihre Tage sind jetzt lang und ohne Aufregung. Meistens sitzt sie nur da und starrt aus dem Fenster. Wartet auf den Moment, an dem sie wieder genug Geld beisammen hat, um Susa anzurufen. Manchmal weint Susa dann, wenn sie Mamas Stimme hört, manchmal weint Lina. Ohne Tränen geht es nie.

Manchmal geht Lina schaukeln, in einen Park. Es erinnert sie an ihre Kindheit. Und es erinnert sie an all die Nachmittage mit Susa im Park, damals, als Susa noch klein war und sie ihre Mutter sein durfte. Susa weiß nicht, was ihrer Mutter in Deutschland geschehen ist. Sie versteht nicht, warum sie nicht einfach nach Hause kommen kann.

Irgendwann wird Susa groß sein und reisen wollen, vielleicht sogar nach Deutschland. Lina wird sagen: Fahre nicht, mein Kind. Und vielleicht wird Susa sagen: Ach Mamuschka, das sind doch die alten Geschichten. Spätestens dann wird Lina ihr alles erzählen müssen.

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Frauke Hunfeld

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