Er wird ihm immer ähnlicher. Nicht in der äußeren Erscheinung - da trennen den Kanzler und seinen Vorgänger noch immer einige Gewichtsklassen. In Auftreten, Weltsicht, Selbsteinschätzung und Tiefenwirkung indes sind verblüffende Parallelen zu beobachten. Besser gesagt: erschreckende - denn Verstand und Erfahrung sind darauf geeicht, Gerhard Schröder kulturell wie politisch als Antithese zu Helmut Kohl wahrzunehmen. Der zupackende Beweger, hemdsärmelig, humorvoll, medienverspielt, gegen die Personifizierung des Stillstands, bärbeißig, geheimbündlerisch, notorisch beleidigt. Image-Larven. Welcher Irrtum - inzwischen!
Denn Gerhard Schröder hat ganz den Herrschaftsgestus des Kolosses angenommen. Schon auf den ersten Blick - man muss sich bloß zwingen, genau und vorurteilsfrei hinzuschauen - sind die beiden zu Zwillingen geworden. Ein einziges Motiv beseelt sie: ICH. Ich habe die Wahlen gewonnen, nicht die Partei, ich bin der erfolgreichste Sozialdemokrat aller Zeiten, was ich sage, wird gemacht, lautet Schröders Selbsturteil.
Man muss nur ein einziges Wort austauschen - Sozialdemokrat gegen Christdemokrat -, um ganz bei Kohl zu sein. "Häme" und "Hetze", bis ins Persönliche, werfen respektive warfen beide ihren Kritikern vor. Was dem einen die linke "Hamburger Medienmafia" war, sind dem anderen nun die "Kettenhunde" der rechten Springer-Presse.
Glaubwürdigkeit des Kanzlers zerstört
Die Glaubwürdigkeit des Kanzlers ist heute nicht weniger zerstört als die seines Vorläufers. Was dem einst die Mär von den "blühenden Landschaften" im Osten verdarb, vergällt nun Schröder das Täuschungsmanöver um Steuern und Wirtschaft im Wahljahr. Wie Kohl ist Schröder in der Wähler-Sympathie abgestürzt, weit hinter seine besten Minister. Witzfiguren wurden beide: Der frühen "Birne" folgte der späte Steuersong-Abkocher.
Im government by chaos ist ohnehin kein Unterschied mehr auszumachen: Ein Konzept, einen inneren Kompass, einen Entwurf für das Land hatten bzw. haben beide nicht - aller dröhnenden Reformrhetorik zum Trotz. Es fehlt nicht viel, und Schröder wird Kohls Stigma vom Reformstau angeheftet. Die "deutsche Krankheit" wird im Ausland jedenfalls längst wieder diagnostiziert.
Und hier wird es ernst. Graben wir eine Schicht tiefer, stellen wir fest, dass Schröder die von Kohl zu verantwortenden Entartungen der deutschen Politik nicht etwa korrigiert, sondern sogar noch verstärkt hat. Als da wären: die Entmachtung von Parlament, Abgeordneten, Partei und Kabinett. Dem frei gewählten Volksvertreter, von Kohl bei Widersetzlichkeiten rüde abgekanzelt und kaltgestellt, wurde von Schröder vor gut einem Jahr per Vertrauensfrage das Kreuz gebrochen.

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Das Gewissen wurde zu einer Funktion der Macht. Seither grummelt es zwar mächtig in den Fraktionen von SPD und Grünen, doch zu politischen Initiativen sind sie nicht mehr im Stande. CDU wie SPD wurden als Parteien komplett kaltgestellt. Die CDU hat sich von ihrer programmatischen Dürftigkeit bis heute nicht erholt. Die Sitzungen des SPD-Präsidiums werden von Teilnehmern als "Trümmerveranstaltungen" verhöhnt - ganz wie die des CDU-Präsidiums zu Kohls Zeiten, als die besten Köpfe erst gar nicht mehr anreisten. Das Kabinett: reine Gruppendynamik. Die Grundsatzabteilung im Kanzleramt: aufgelöst.
Setzt sich der Trend fort, erkennen wir Deutschland nicht wieder
Die Kanzlerdemokratie
An die Stelle einer lebendigen Parteien- und Strömungsdemokratie, die im Widerstreit der Anschauungen Konzepte formt, ist schleichend eine Kanzlerdemokratie getreten. Mit fatalen Folgen: Ist der Kanzler schwach, schwächelt das ganze Land. Die Korrektive sind ausgeschaltet, die Ideenfabriken stillgelegt. Schröder versucht sie durch eine Expertokratie von Kommissionen zu ersetzen; doch weder Professoren noch Verbandsfunktionäre sind geeignet oder gar legitimiert, die Republik zu regieren.
Zu den 16 Jahren Kohl addieren sich inzwischen vier Jahre Schröder. Setzt sich der Trend fort, erkennen wir die politische Architektur des Hauses Deutschland nach dann 24 Jahren Entkernung nicht wieder. Die trostlose Verfassungswirklichkeit schreit zum Himmel. In Kohls Regentschaft wagten Heiner Geißler und Lothar Späth einmal einen Putschversuch, doch er scheiterte kläglich. Heute hebt Sigmar Gabriel als Erster in der SPD den Kopf aus der Furche. Selbst wenn er die Niedersachsen-Wahl nun verliert: Er zählt zu den wenigen, die der Zukunft wieder ein Gesicht geben könnten. Verloren hätte die Wahl ohnehin Schröder - wie vor ihm Kohl so viele Landtagswahlen.