Zwischenruf Cäsar thront bei RTL

Der gewaltige Erfolg der Dschungelshow offenbart die Seelenlage der Deutschen: Sie wollen ihrem Jammertal entfliehen - oder Politiker im Camp leiden sehen. Aus stern Nr. 5/2004

Voyeurismus? Sadismus? Händereibender Spaß am Einbruch in die Intimsphäre anderer - anonym und aus sicherer Distanz? Eine Hand an der Fernbedienung, die andere in der Erdnussschale aus dem Palisanderschrank. Oder perfide Lust am Quälen Gefangener - wie einst in römischer Arena? Diesmal bloß versammelt sich der Plebs auf virtuellen Rängen und senkt den Daumen per Handy-Votum. Den Langweiligen, den Loser, den Verhassten sollen die Löwen ? Verzeihung: die Kakerlaken fressen.

Mag sein. Mag beides zutreffen. Und doch reichen Voyeurismus und Sadismus allein nicht aus, den Erfolg des Fernsehcamps mit B(onsai)-Prominenz zu erklären. Eskapismus, Flucht aus dem miesen Alltag in den TÜV-geprüften Dschungel am anderen Ende der Welt, ist der Schlüssel, der die deutsche Seele in diesen Tagen aufschließt. Wer das Land und sein psychisches Unterholz auszuleuchten versucht, muss das Spektakel ernster nehmen, als es gemeint war. Die Deutschen haben sich kollektiv auf die Couch gelegt. Abend für Abend. Und ihre Triebe entfesselt.

Genugtuung im Leiden anderer

Bloß weg hier, raus! Down under! Ein Volk von Auswanderern, das seine geistig entleerte, politisch ver(w)irrte, ökonomisch darbende Heimat flieht. Trost sucht in gleißender Exotik, Genugtuung im Leiden anderer, Zerstreuung unter Urbäumen. Daniel, Susan, Costa - erlöst uns von dem Übel! Eure Tortur ist unsere. Schon in Rom wurde es spektakulärer, gemeiner, blutiger, je prekärer die Lage des Staates war. Brot und Spiele. Arbeitslosengeld zwo und Dschungelcamp. Cäsar thront bei RTL. Der Kanzler fliegt durch Afrika.

Raus hier! Bloß weg von Lüge, Zumutung und Schamlosigkeit. Michel Friedman, den Schrei nach der zweiten Chance noch auf den Lippen, ergreift die letzte und wird Moderator einer Justizshow. Ein Vorbestrafter, gestrandet in Kokain und Hurerei, ölt die Maschinerie der Gerechtigkeit. "Law & Order" hieß das TV-Format im Original; gegen diese Parole hatte er einst als Gerechtester der Gerechten mit dem Flammenschwert gefochten. Dann könnte doch auch der kregele Küblböck das Philosophische Quartett moderieren.

Der afrikanisierende Kanzler legt ein Reformpäuschen ein

Raus hier, bloß weg! Der afrikanisierende Kanzler legt ein Reformpäuschen ein, denn das Reformieren war ekliger als ein Bad in Schlangen. Aber natürlich darf davon keine Rede sein. Schließlich reformiert der Kanzler immer und ewig. Nun das Bahnwesen in China mit dem Transrapid, der hier schon nicht schweben durfte und demnächst vielleicht auch dort nicht mehr. Woll‘n mer doch mal sehen, dass die Chinesen keinen Fehler machen!

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Und die Schulen und die Unis und die ganze forschungslahme Wirtschaft. Über Nacht heckte eine einzige Elite-Uni zehne und trieb dann doch alle wieder ab. Dafür saßen die Cracks germanischer Spitzentechnik schon am Abend beim Kanzler und schworen Erneuerung. Großkonzernler allesamt wie der Chef der Telekom, der beim Maut-System bewiesen hat, wie rasch solcher Eid an der Software gebricht.

Bleibt und bloß gestohlen!

Bleibt uns bloß gestohlen! Die Gesundheitsministerin, die chronisch Kranke erst recht malade machte. Der Finanzminister, der Lohnfortzahlung für Babysitter mit Zollfahndern erzwingen will. Der Innenminister, der den Umzug seines Kriminalamts vorm Rasierspiegel beschloss. Die Unionsführer, die ihre finale Steuerreform mit der Fanfare verkündeten und sich am Mundstück verschluckten.

Raus hier! Oder rein mit ihnen ins Camp. Forsa hat es für uns ermittelt. Revanche über Kreuz: Gerhard Schröder und Jürgen Trittin (je 56 Prozent) würden die CDU-Anhänger am liebsten lebendig unter Palmen begraben, Guido Westerwelle (61) und Edmund Stoiber (59) die SPD-Gläubigen. Es wäre den Deutschen ein Fest. Endlich eine Volksabstimmung, endlich direkter Zugriff! Von diesem Tag an würde zurückgefoltert.

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Hans-Ulrich Jörges