Zweimal hat die SPD ihre neuen Möglichkeiten getestet. Zweimal in zwei Jahren hat sie Fässer aufgemacht, gewaltige gesellschaftliche Diskussionen angestoßen - aber fast unbeabsichtigt. Jedenfalls nicht planvoll. Und ohne recht zu begreifen, was sie daraus hätte machen können. Vor allem: ohne die Kraft zu erahnen, die sie selbst aus solchen Fässern schöpfen könnte. Beim ersten Mal, im April 2005, setzte Franz Müntefering, damals noch Parteichef, die "Heuschrecken" in die deutsche Welt, einen Begriff von biblischer Bildhaftigkeit für den Zugriff renditeradikaler Kapitalinteressen auf Betriebe und Jobs. Müntes Kapitalschrecken aber waren als Wahlkampfdreh zu erkennen - in zu scharfem Kontrast zu Gerhard Schröders Agendaschrecken.
Beim zweiten Mal, in diesen Tagen, entdeckte Kurt Beck, der achte Parteichef seit Willy Brandt, die "Unterschicht". Kurios verschämt, denn den Begriff wollte er gleich wieder aus der Welt schaffen. Aber der Deckel ist runter vom Fass, und viele schöpfen daraus. Aus beiden Debatten lässt sich eines lernen - Irrtümer und Vergröberungen mal zur Seite geschoben: Die Gesellschaft dürstet nach neuer sozialer Gerechtigkeit. Nach dem großen, andauernden, vergewissernden Gespräch über Unten und Oben, Ethos und Verantwortungslosigkeit des Kapitals, Sicherheit und Ausgeliefertsein im Wandel, verlässlichen Halt und Angst vor unaufhaltsamem Abstieg.
Zwischen beiden Debatten aber gibt es einen bedeutsamen, wenn auch verborgenen Unterschied: Münte setzte seine Heuschrecken im Alleingang frei, durch ein Papier aus seinem persönlichen Stab für die Grundsatzprogramm-Debatte der Partei. Polit-autistisch. Beck bezog sich auf eine Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung, die der Parteiführung bekannt war, im Präsidium diskutiert wird und einen strategischen Ansatz für die Rückgewinnung der Mehrheitsfähigkeit liefern soll. Dass daraus eine Debatte über das "abgehängte Prekariat" wurde, ist eine Art Betriebsunfall wegen des Stichworts, das Beck dazu lieferte, denn die Studie untersucht neun gesellschaftliche Milieus, und daraus soll eine Strategie abgeleitet werden, in welche die SPD wie eindringen könnte. Die Versprengten und Verlorenen spielen dabei eine Nebenrolle.
Zu erkennen ist daran aber: Es kehrt wieder Leben ein in die SPD. Analyse der Gesellschaft, Diskussion in den Gremien, Nachdenken über Aufgaben und Perspektiven. Alles das, was während der Kanzlerschaft Schröders durch Oktroyieren von oben, durch Sprachlosigkeit und akklamatorische Parteitage verschüttet worden war. In seinen Memoiren beschreibt Schröder sein Verhältnis zur eigenen Partei als unaufhörlichen Kampf gegen Funktionäre, Fraktionierer und Frondeure.
Der Parteikörper ist an vielen Gliedern taub oder abgestorben. Es gibt nur noch 9000 Ortsvereine, davon 2000 auf dem Papier - tot
Auch die Wiederbelebung kommt nun von oben. Tastend und noch ohne stimmigen Plan, doch vorangetrieben durch Beck und seinen Generalsekretär Hubertus Heil, der demnächst eine Führungsakademie der SPD gründen will. Aktuell ist der Parteikörper an vielen Gliedern taub oder gar abgestorben. Von rund 12 500 Ortsvereinen spricht die SPD selbst in ihrem Internetportal. Das entspricht der Zahl der Gemeinden in Deutschland, wobei auf größere mehrere Ortsvereine kommen - besser: kommen müssten. Denn Kundige berichten von einer vertraulichen Studie, wonach es nur noch rund 9000 sind, davon 2000 allein auf dem Papier. Tot. Ein Viertel der anderen hat seit 25 Jahren kein neues Mitglied mehr aufgenommen. Die Mitgliederzahl der SPD ist dadurch seit 1990 um 40 Prozent auf 568 000 gesunken. Auf der Deutschlandkarte der Roten gibt es viele weiße Flecken, vor allem im Osten, wo die SPD Polit-Prekariat ist, neu begründet werden müsste.
Geradezu niedlich die Selbstbeschreibung: "Die politische Willensbildung vollzieht sich in der SPD von unten nach oben." Das kann nur als Auftrag verstanden werden, denn auf Parteitagen gibt es kaum noch Anträge von unten. Da wird oben doziert und unten pariert. Wie Menschen wieder für die Partei interessiert werden könnten, ist vergangenes Jahr im Landkreis Goslar erprobt worden, wo offene Bürgerversammlungen über den Landrats-kandidaten der SPD abstimmen konnten. Die Treffen waren blendend besucht - und der Auserkorene gewann am Ende die Wahl.
Was der SPD indes fehlt, sind Projekte, mit denen sie identifiziert wird, die Teilhabe und Aufstieg versprechen. Die Gewinn- und Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer gehört dazu, die der gestürzte CDU-Sozialpapst Norbert Blüm in seinem neuen Buch "Gerechtigkeit" als "Ertragslohn" bezeichnet - zusammen mit dem Standardlohn "die eigentliche Form des Kombilohns, der diesen Namen verdient". Beck hat sich dazu im stern erstmals vorbehaltlos bekannt. Er könnte der CDU, die ihre Sozialkompetenz weitgehend verloren hat, das Thema wegnehmen, zu dem sie sich bislang nur halbherzig bekennt. Und damit ein drittes, ein richtiges Fass aufmachen.