SPD Genossen auf Irrfahrt

Bärbel Bas und Lars Klingbeil
SPD-Doppelspitze aus Arbeitsministerin Bärbel Bas und Vizekanzler Lars Klingbeil
© IMAGO/dts Nachrichtenagentur
Die SPD weiß nicht, was sie will. Und geht deshalb ausgerechnet jetzt in die programmatische Selbstfindung. Das kann heiter werden für die Koalition.

Sojasauce wäre gut jetzt. Der SPD-Generalsekretär hat Sushi bestellt, aber im gesamten Willy-Brandt-Haus ist partout keine Sojasauce aufzutreiben. "Könnte schlimmer sein", murmelt Tim Klüssendorf tapfer. Und das stimmt ja, schlimmer geht immer, zumal in der SPD. Aber manchmal trifft einen unverhofft das Glück. Als Klüssendorf das Essen auspackt, entdeckt er ein paar kleine Tütchen, die beigelegt waren, reißt sie auf und: guten Appetit!

Zumindest dieses Problem wäre gelöst. Bleiben zig andere.

Was läuft da schon wieder schief bei der SPD?

Freitagmittag vergangener Woche, es ist einer dieser Tage, die für den 34-jährigen Generalsekretär nur durch Termine an Struktur gewinnen. Kurze Besprechung hier, schneller O-Ton dort, Lunch im Büro. Zeit ist ein Faktor für Klüssendorf, ständig ist er auf Sendung – und überall stellt man ihm die gleiche Frage: Was läuft da schon wieder schief bei der SPD?

Die Partei wirkt orientierungslos, auch gereizt. Beim Wehrdienst ließen die Sozialdemokraten einen Kompromiss in letzter Minute platzen, arbeiteten sich danach an den "Stadtbild"-Aussagen des Kanzlers ab. Und jetzt wollen Teile der Basis schärfere Sanktionen beim Bürgergeld verhindern. Es braut sich – mal wieder – etwas zusammen bei den Sozialdemokraten.

Die SPD erscheint wie eine Dagegen-Partei, die vor allem weiß, was sie nicht will. Die nicht gestaltet, sondern Besitzstände verwaltet. Die bremst.

Für die Bundesregierung wird das zum Problem, aber auch für die SPD-Führung. "Der Status quo ist unser größter Feind", hatte Parteichef Lars Klingbeil als Losung ausgegeben. Er will ein roter Reformer sein, das Siechtum der SPD beenden. Doch ihm und Co-Chefin Bärbel Bas drohen Partei und Fraktion zu entgleiten – in einer Koalition mit nur zwölf Stimmen Mehrheit, einem Bündnis, das sich gegen erstarkte Ränder und verdrossene Wähler behaupten muss.

Ausgerechnet jetzt will sich die SPD also mit sich selbst beschäftigen. Die Genossen planen, ein neues Grundsatzprogramm zu erarbeiten. Ende November startet die Mission "Visionsentwicklung", wie es in einer internen Präsentation heißt. Sie kursiert längst auch in CDU-Kreisen und bereitet dort große Sorge.

Hinter seiner Partei liege ein hartes Jahr, sagt Generalsekretär Klüssendorf in seinem Büro und pult eine Edamame aus der Pappschale. Im Schnelldurchlauf: historische Wahlniederlage, Personalrochade, die nächste Notkoalition, Migrationswende, Bürgergeld-Aus, Richterwahl-Eklat. Und nirgendwo Aufbruchstimmung. "Wir dürfen trotzdem nicht in Selbstmitleid versinken", mahnt er.

Tim Klüssendorf bei einer Rede
Alle Hände voll zu tun: Parteigeneralsekretär Tim Klüssendorf, 34, soll die Erneuerung der SPD organisieren
© Bernd von Jutrczenka / Picture Alliance

Klüssendorf muss den Aufbruch organisieren, dafür sorgen, dass die SPD – Achtung, Floskelalarm! – wieder Lust auf sich selbst bekommt. Er soll einlösen, was Parteichef Klingbeil noch am Wahlabend versprochen hat: nicht nur einen Personalwechsel, sondern eine wirkliche programmatische Erneuerung. Zwei Jahre sind für den Selbstfindungsprozess veranschlagt. Zwei Jahre, die für die Koalition zur Belastungsprobe werden könnten.

Ende September in Berlin-Mitte, der linke Flügel der SPD-Bundestagsfraktion lädt zum Sommerfest. Es ist Herbstwetter und Lars Klingbeil hat seine Jacke vergessen. Nicht nur das politische Klima nimmt keine Rücksicht auf ihn.

Appell oder Hilferuf? 

Die SPD rangiert bei 15 Umfrageprozenten, abgeschlagen hinter Union und AfD. Trotz neuer Infrastrukturmilliarden. Trotz "Bau-Turbo". Trotz Rentenpaket. Es läuft einfach nicht. Auch weil Klingbeil, der doch als SPD-Machtzentrum in der Regierung Orientierung geben muss, nicht läuft.

"Wir müssen deutlich machen, dass wir Bock haben, dieses Land zu gestalten", ruft er seinen Leuten von der Bühne zu. "Das geht nicht, wenn wir als SPD durchhängen, wenn wir schlapp sind. Wenn wir auch nicht gerade vermitteln, dass wir Lust auf Politik haben."

Der Appell, er klingt wie ein Hilferuf: Ein bisschen mehr Begeisterung, bitte!

Wir dürfen nicht in Selbstmitleid versinken

Müdes Lächeln auf den Bierbänken, ein Genosse schnauft. Die Worte des Parteichefs sollen motivieren, dem Gefühl entgegenwirken, das viele umtreibt: Die Union bestimmt den Kurs, die SPD trottet hinterher. Doch gute Stimmung lässt sich nicht verordnen, sie muss aus Überzeugung erwachsen, ganz oben angefangen. Ist Klingbeil denn selbst elektrisiert vom eigenen Regieren? Oder von seinem Tun als Parteichef? In der SPD wächst Unmut darüber, dass sich die Doppelspitze aus Klingbeil und Bärbel Bas zu sehr aufs Regieren verlegt habe – zulasten der programmatischen Erneuerung. Das Vakuum würden nun andere durch ungeordnete Streitereien mit dem Koalitionspartner füllen, klagen Abgeordnete. Und Fraktionschef Matthias Miersch fegt hinterher alles wieder auf. Er gilt zwar als Teamplayer, aber nicht als Anführer, der durchgreift und klare Ansagen macht.

In einem scheinen sich viele einig: Der Partei fehle ein großes Projekt, das sie eint und begeistert – und der Verlockung entgegenwirkt, billige Punkte auf Kosten des Koalitionspartners machen zu wollen. Die frustrierten Genossen verlangen nicht weniger als eine Vision für ihre Partei, die eingekeilt ist zwischen Linkspartei, AfD und Union. Die Gerechtigkeitsklassiker von der Erbschafts- bis zur Vermögenssteuer zünden nicht mehr. Man spult sie seit Jahren ab und setzt sie doch seit Jahren nicht durch. Das verstärkt die Unsicherheit.

Der Wehrdienst als warnendes Beispiel

"Wir werden als SPD erst dann wieder interessanter, wenn wir große Ideen auch kontrovers in der Partei diskutieren", sagt Generalsekretär Klüssendorf. Meint: Es muss mehr gestritten werden. Das werde hart, sagt er. Nicht nur für die Partei, auch für die Koalition. Alternativen? Keine.

Sonst sucht sich die Partei ihre eigenen Debatten, warnendes Beispiel Wehrdienst: Die SPD-Fraktion zerlegt gerade genüsslich den Kompromiss, den die eigenen Leute mit der Union ausgehandelt haben.

Auch in der Sozialpolitik wird die Orientierungslosigkeit deutlich, etwa beim Bürgergeld: Teile der Basis werfen der Parteiführung vor, eine Politik zu verfolgen, "die Armut bestraft". Sie wollen die schärferen Sanktionen, die von den eigenen Regierungsleuten schon abgesegnet wurden, durch ein Mitgliederbegehren stoppen.

Beim Koalitionspartner von der Union fürchtet mancher angesichts dieser Kakofonie das Schlimmste. Denn der sozialdemokratische Selbstfindungsprozess – die erste tiefgreifende Standortbestimmung seit 2007 – hat noch nicht mal begonnen. In der CDU kennen sie diesen raumgreifenden, teils leidigen Prozess nur zu gut. Nach der Wahlniederlage von 2021 haben die Christdemokraten zweieinhalb Jahre um ihr neues Grundsatzprogramm gerungen, sich teils wochenlang um einzelne Worte gestritten. Allerdings saßen sie damals in der Opposition.

Nun wollen sich die Sozialdemokraten neu erfinden, während sie regieren. Dabei muss sich die Koalition um gigantische Haushaltslöcher, tiefgreifende Renten- und Sozialstaatsreformen sowie den ausbleibenden Wirtschaftsaufschwung kümmern. Im kommenden Jahr werden zudem fünf neue Landesparlamente gewählt. Im Wahlkampf haben sich auch Koalitionspartner wenig zu schenken. Eine heikle Versuchsanordnung. Schon jetzt klagen sie in der Union, dass die SPD den Eindruck erwecke, nur unter Schmerzen zu regieren und überhaupt nur, um Schlimmeres zu verhindern.

Wenn es Ende November im Zuge der "Visionsentwicklung" also so richtig losgeht, dann zuerst mit einem digitalen Mitgliederforum, in das alle Genossen ihre Ideen einspeisen können. 2026 folgt die "Arbeitsphase", in der mehrköpfige Teams tief in die Themen einsteigen, die 2027 auf Programmkonferenzen zusammengeführt werden. Das finale Grundsatzprogramm soll Ende 2027 auf einem Parteitag beschlossen werden.

Was kommt da auf die Koalition zu?

Zwei Jahre Selbstfindung sind eine lange Zeit, wenn jeder Tag zählt – und die Unzufriedenheit wächst. Schon jetzt ist die Versuchung in der SPD kaum zu bändigen, sich angesichts der miesen Umfragen auf Kosten des Partners zu profilieren. Wie soll das erst werden, wenn man bei der Standortbestimmung bemerkt, dass die Differenzen mit der Union nicht nur grundsätzlicher sind als gedacht, sondern vielleicht sogar unüberwindbar?

Zurück im Büro des Generalsekretärs: Das Sushi ist verputzt, auch die Sojasauce geleert. Jetzt muss er sich um Probleme kümmern, die weit schwerer zu lösen sind. Seine Partei müsse wieder ein spannender Ort sein, sagt Klüssendorf. Es klingt wie eine weitere Politikfloskel aus dem Satzbaukasten eines Parteifunktionärs. Aber ist durchaus als Kampfansage gemeint. "Egal, wie gut unsere Regierungspolitik ist: Es braucht noch mehr, um als Partei Menschen mitzureißen", sagt er. Für ihn gehört ein ordentlicher Streit um die besten Ideen schon zum Ziel.

Gut möglich, dass man das in der Union ein wenig anders sieht. 

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