ABENTEUER 2000 Meilen in Richtung Sonne

Rauf auf den Güterzug und dann als blinder Passagier irgendwohin, wo es hoffentlich Arbeit gab - so reisten Menschen früher durch die USA. Oskar's-Redakteur Timothy Gibbons hat ausprobiert, was ein Hobo heute erlebt.

Fünf Uhr nachmittags, wir schlendern gerade die Bahngleise in einem Nest in Georgia entlang, als der Pfiff ertönt. Der Zug, der uns entgegenkommt, ist ein Sammelsurium von Waggons, das mit rund 15 Meilen pro Stunde in Richtung Süden rattert. Ich schaue auf meine Uhr und pirsche mich vorsichtig an die Gleise heran. Als ich den Maschinisten entdecke, rufe ich ihm zu: »Welche Nummer?« »455«, anwortet er - unser Zug.

Mein Führer, ein erfahrener Hobo mit dem Namen Rapid T., und ich inspizieren, was da um die Kurve kommt: geschlossene Güterwagen, Tankwagen und kanadische Getreidewaggons - alles nichts für uns. Dann sehen wir eine Reihe von Gondeln, Waggons wie große Schuhkartons ohne Dach. »Können wir aufspringen?«, frage ich T. Er zuckt mit den Schultern. »Du kannst es versuchen«, sagt er. »Aber denk dran: von unten durchgreifen!«

Ich renne los. Für den ersten Waggon, den ich mir ausgesucht habe, bin ich zu spät dran, also zurück zur Biegung und noch mal: Ich laufe neben dem Zug her, greife eine Leiter möglichst weit oben, ziehe mich empor und suche mit den Füßen eine Sprosse. Dann klettere ich rauf, sehe ins Innere und bin froh, dass der Waggon leer ist. Der Zug wird schneller, ich schwinge mich über den Rand und lande auf dem Boden des Waggons. Ich habe es geschafft: Ich habe einen fahrenden Güterzug bestiegen.

Mit meiner Reise - elf Tage und 2000 Meilen auf acht Zügen durch zehn Staaten - bin ich auf den Spuren der Landarbeiter, die vor mehr als hundert Jahren auf der Suche nach Arbeit durch die USA zogen, zunächst auf der Straße, später auf Schienen. Weil sie ihre Hacken (auf englisch »hoe«) von einer Stadt zur nächsten schafften, bekamen sie den Namen »hoeboy«, der später zu »hobo« wurde. Während der großen Depression - dem goldenen Zeitalter der Hobos - reisten fast eineinhalb Millionen illegal auf Zügen kreuz und quer durchs Land, um irgendwo Dämme oder Pipelines zu bauen oder Bäume zu fällen.

Heute sind auf den Schienen unterschiedlichste Arten von Hobos unterwegs: arbeitslose Jugendliche und desillusionierte Vietnamveteranen ebenso wie illegale Einwanderer, die nach einem Job suchen. Die größte Gruppe aber sind junge Leute; sie haben Handys, hören den Funkverkehr zwischen den Zügen ab und halten über das Internet Kontakt zu anderen Hobos. Für sie ist das Reisen auf Güterzügen ein Abenteuer; Routen und Ausblicke vergleichen sie wie auch Gebirgskletterer ihre Erlebnisse.

Ich spürte das Hobo-Fieber erstmals, als ich mich unter einer Brücke in der Bronx in New York City versteckte und ein Güterzug an mir vorbeirollte. Mein Begleiter war Rapid T., den ich über eine Mailingliste gefunden hatte. Nach zahllosen E-Mails und einem Dutzend R-Telefonaten hatten wir uns in New York verabredet, um nach Arizona aufzubrechen, in Richtung Sonne. Kurz vor Reisebeginn rief T. noch einmal die Güterabfertigungzentrale der Bahn an und gab sich als Spediteur aus, um letzte Informationen zu sammeln über den Zug, der uns aus der Stadt nach Selkirk im Bundesstaat New York bringen sollte. Mit der U-Bahn fuhren wir zum Eisenbahndepot Oak Point Yard. Während T. die Lage prüfte, versteckte ich mich unter einer Brücke. »Tu einfach so, als wärst du ein Penner«, flüsterte mir T. zu, bevor er sich zu einem Depotarbeiter aufmachte.

Der Arbeiter verriet uns, wo der Zug abfuhr, warnte uns jedoch, dass er uns vom Zug werfen würde, falls er uns entdeckte. Als er uns nicht mehr sehen konnte, kletterten wir schnell auf einen Getreidewaggon, einen großen, leeren, containerähnlichen Wagen mit zwei kleinen Kammern. Wir kauerten uns in eine der Kammern, die Bremsen zischten, und mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Ich betrachtete die vorbeiziehende Landschaft; sie sah aus wie eine Winterpostkarte.

Als wir um vier Uhr früh in Selkirk ankamen, war es noch ruhig - und kalt. Wir marschierten zum Postamt, schliefen ein wenig und gingen dann bei Sonnenaufgang zurück zum Rangierbahnhof. Kurz nach zwölf fanden wir einen Güterwaggon, der uns in 14 Stunden nach Willard in Ohio brachte und uns einen schönen Blick sowohl auf den Sonnenuntergang als auch auf den Mondaufgang bescherte.

Am nächsten Tag liefen wir in der Stadt herum und trafen auf zwei Polizisten. Weil T. mit dem einen Streit anfing, musste er für eine Nacht ins Gefängnis. Ich hielt den Mund, mich ließen sie laufen. »Es ist uns egal, wenn ihr auf Züge springt«, sagte der andere Polizist. »Wenn es die Eisenbahngesellschaften stört, werden sie sich drum kümmern.«

Nach T.'s Entlassung kehrten wir zum Bahngelände zurück und stiegen auf einen Getreidewaggon. Die Kälte war schlimmer als zuvor, und als wir in Columbus ankamen, spürte ich mein linkes Bein nicht mehr. Ich sprang zur rechten Seite vom Zug - so, wie wir es immer gemacht hatten -, kurz darauf hörte ich T. von der anderen Seite der Gleise rufen. Verschlafen warf ich meine Tasche zurück auf den Waggon und kletterte wieder hinauf. Was ich nicht wusste: Die Arbeiter »schneiden« die Züge ab, indem sie Waggons abkoppeln und sie zum »hump yard« schicken, einem abschüssigen Gelände, wo die Züge auf unterschiedliche Gleise rollen - und mein Wagen war kurz davor, abgekoppelt zu werden. Ein Bahnarbeiter bemerkte mich, kurz bevor er den Zug abkoppeln wollte. Hätte er mich nicht entdeckt, ich wäre mit über 60 Stundenkilometer auf einen anderen Zug geprallt. Das wahrscheinliche Resultat: Hobo-Mus.

Wir schlichen aus dem Rangierbahnhof, und ich schwor mir, am nächsten Tag vorsichtiger zu sein. Doch alles, was da in unsere Richtung fuhr, waren Kohlewaggons - und die sind für Hobos besonders gefährlich. Ein freundlicher Arbeiter erlaubte uns, auf eine ungenutzte Lokomotive zu steigen; überhaupt waren die hilfsbereiten Eisenbahnangestellten immer wieder eine Überraschung. Sie unterstützten uns - damit sie uns so schnell wie möglich loswurden: Falls uns etwas passieren sollte, dann bitte nicht auf ihrem Bahnhof.

In der nächsten Nacht erwischten wir einen Getreidewaggon und wechselten in Collier, Virginia, auf einen Güterwagen für die 30-stündige Fahrt nach Richmond. Wir erreichten den Rangierbahnhof, als der Ort gerade erwachte. Nachdem wir unser Gepäck nahe der Gleise versteckt hatten, liefen wir in die Stadt. Es war unser erster längerer Aufenthalt außerhalb eines Zuges seit Tagen. Wir hingen auf dem Bahnhof herum, lasen, dösten und redeten, während wir auf unseren Anschluss um viertel nach fünf warteten.

Als der Zug um sieben Uhr endlich kam, nahmen wir einen Güterwagen, der sich langsam duch Virginia und North und South Carolina schlängelte, bevor er in das riesige Eisenbahndepot in Waycross in Georgia einrollte. Diese Fahrt war das eindrucksvollste Hobo-Erlebnis der gesamten Reise. Das Wetter war schön, das Sitzen in der offenen Schiebetür des Waggons ein Vergnügen. Den größten Teil der Reise legten wir bei Tag zurück, sodass ich die Landschaft durch meine rollenden Panoramafenster betrachten konnte. Ich winkte den Autos an den Bahnübergängen zu und fragte mich, was wohl die Fahrer dachten, wenn sie eine grinsende Gestalt in einer offenen Waggontür sahen.

Mein Hobo-Abschlussprüfung fand nach elf Tagen auf der Schiene in Waycross statt, und ich hatte sie bestanden: Ich war neben dem 455er hergelaufen, hatte mir eine Leiter gegriffen und mich auf den rollenden Zug geschwungen. Jetzt rappele ich mich auf vom Boden des Waggons, um zu sehen wie Rapid T., mein Lehrer, aufsteigt. Er versucht gerade verzweifelt, meinen Seesack in den Waggon zu werfen, aber da mein Mantel und mein Schlafsack drin stecken, schafft er es nicht. »Er ist zu schwer«, ruft T. Ich zucke mit den Schultern und warte darauf, dass T. versucht, auf einen anderen Waggon zu springen. Er scheint jedoch auf den Schienen festgefroren zu sein, nur seine Arme bewegen sich, so als wolle er winken. Ein paar Waggons später sehe ich ihn schon nicht mehr.

Ich betrachte den immer schneller vorbeiziehenden Bahndamm. Das Aufsteigen war aufregend - das Abspringen haben wir nie geübt. Mir schießen die Hobo-Geschichten, die ich gelesen habe, durch den Kopf, vor allem muss ich an »Stumpy« denken: Das ist ein ehemaliger Hobo, von dem Jack London in »Abenteurer des Schienenstrangs« erzählt. Er hatte beide Beine verloren, als er falsch von einem Zug abstieg. Ich bleibe an Bord und verabschiede mich von Rapid T. - und von meinen Sachen.

Ich taste mich vor zum vorderen Ende der Gondel, ducke mich, um dem Wind zu entgehen, obwohl es an diesem Abend im Süden wesentlich wärmer ist als zu Beginn meiner Reise. Bei Einbruch der Nacht lege ich mich auf den rostbedeckten Boden und blicke in die Sterne, suche die drei Sternbilder, die ich kenne, und schaue den Flugzeugen nach, die über mir brummen, während ich mich frage, was die Passagiere dort oben wirklich über das Reisen wissen.

Vier Stunden später hält der Zug. Ich erkenne alle Geräusche, die vor elf Tagen noch so fremd waren: die quietschenden Räder, das Abkoppeln der Luftschläuche, das Knattern der Funkgeräte der Bremsarbeiter, die am Zug arbeiten. Ich springe aus der Gondel und gehe auf einen Bremsarbeiter zu, der gerade Waggons abkoppelt. »Hey, wo bin ich?«, frage ich. Er lächelt. »Gerade angekommen?« »Jau.« »Du bist in Moncrief Yards«, sagt er - ein Ort, von dem ich noch nie gehört habe. »Und wo ist das?« »Jacksonville.«

Ich seufze erleichtert und mache mich auf den Weg in die Stadt. Dabei registriere ich all die Dinge, die ich vor der Reise nie beachtet habe: Diese Schiene glänzt - wird wahrscheinlich viel befahren. Hier ist eine Passagierzug-Durchfahrt - besser auf der Seite bleiben. Keiner von diesen großen Pickup-Trucks zu sehen - also bin ich vor den Polizisten sicher. Als ich an einem Triebwagen vorbeigehe, höre ich ein lautes »Hey!«. Ich schaue gerade rechtzeitig auf, um eine Packung Cracker aufzufangen, die mir der Lokführer zugeworfen hat. »Willst du Wasser?«, fragt er. Ich nicke, und er wirft mir zwei Flaschen herunter.

Eine Flasche trinke ich, während ich hinaus auf die Straße gehe. Dort warte ich auf einen Freund, der mich zurück in die Zivilisation bringen soll. Ich hocke am Rande des Rangierbahnhofs und stelle fest, dass ich mich an dieses Leben gewöhnen könnte: der verbotene Reiz, eine Zugfahrt zu erschleichen, der Spaß am Reisen, das entspannende Schwanken der Güterwagen, während ich in der Sonne döse, ohne mir über irgendetwas den Kopf zu zerbrechen. Ich blicke ein letztes Mal in Richtung Schienen, als ein Zug vorbeidonnert. Er ist zu weit weg, um festzustellen, ob man mitfahren könnte, außerdem ist er zu schnell zum Aufspringen.

Aber es wird andere Züge geben. Der Ruf der Pfeife und das Rattern der Räder haben mich angesteckt, und ich weiß, dass ich bald zurückkommen und wieder auf Rangierbahnhöfen herumgeistern werde. Ich bin ein Hobo geworden.

Timothy J. Gibbons, 27, will wieder als Hobo reisen, das nächste Mal aber, wenn es warm ist. Mehr über seine erste Fahrt findet sich unter www.timgibbons.net

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