"Des Schlosses Wände waren gebildet aus treibendem Schnee und Fenster und Türen aus den schneidenden Winden. Es waren über hundert Säle darin, alle, wie sie der Schnee zusammenwehte. Der größte erstreckte sich mehrere Meilen weit. Das glänzende Nordlicht beleuchtete sie alle, und wie groß und leer, wie eisig kalt und glänzend waren sie!", so heißt es im Märchen von der Schneekönigin. Hans Christian Andersen hat es geschrieben, ein Däne. Doch wer an einem Wintertag im norwegischen Hafen von Tromsø steht, nicht weit vom Nordkap entfernt, der ahnt, dass es bis zum Schloss der Schneekönigin nicht weit sein kann.
Tromsø hat nur 65.000 Einwohner, dafür erstreckt es sich weit: auf einer Fläche fast so groß wie das Saarland. Doch die Berge, die es umgeben, scharfkantig und weiß, lassen selbst die Kathedrale aussehen, als hätte ein Kind sie aus Papier gefaltet. Im Winter ist es sehr ruhig im Hafen. Auf einem Denkmal, die Rechte zur Faust geballt und den Blick nach Süden gerichtet, steht Roald Amundsen, der Entdecker. Für ihn und viele andere war dieser Hafen der letzte Halt, bevor sie ins eisige Nichts aufbrachen. Für manche war es auch der letzte Hafen, den sie vor ihrem Tod sahen.
Ab und zu legt ein Schiff an
Das Reich der Schneekönigin ist ein gnadenloses. Selbst die Sonne wagt sich bis Mitte Januar nicht über den Horizont. Bis dahin warten Berge und Meer still auf das fahle Licht, das morgens zaghaft das Blau der Nacht aufhellt, nur um sich ein paar Stunden später wieder errötend hinter den Gipfeln zu verstecken. Ab und zu legt ein Schiff der Hurtigruten am Kai an. Hunderte Menschen hätten darauf Platz, doch wenn sich die Klappe öffnet, schliddern nur ein paar vermummte Gestalten und ihre Taschen aus dem Schiffsbauch.
Die alten Postschiffe sind eine gute Möglichkeit, den Vorgarten der Schneekönigin zu erkunden, ohne sich zu weit ins Eis vorzuwagen. In den frühen Tagesstunden kann man, Nase und Mund unterm Schal versteckt, vom Deck aus die Fjorde mit ihren Inseln und Gletschern bestaunen, ohne Schneeflocken zu verschlucken. Nachts sieht man von der Landschaft nichts, aber mit etwas Glück grün leuchtenden Staub vom Himmel fallen: das Nordlicht. "Es war, als sprühe der Himmel Feuer", schrieb Hans Christian Andersen über die Aurora Borealis.
"Aurora ist eine launische Frau"
Für die Wikinger war das nächtliche Leuchten eine Spiegelung in den Rüstungen der Walküren, die nach einer großen Schlacht über den Himmel ritten. Auch in Tromsø spricht man vom Nordlicht in weiblicher Form: "Aurora ist eine launische Frau. Vielleicht zeigt sie sich heute Nacht", sagt der Herr in der Touristeninformation, als er die Schiffstickets aushändigt und macht dabei ein Gesicht, als hätte er noch einen Zaubertrick in petto.
Reise-Informationen
Hurtigrutentour: Mit dem Bus geht es von Tromsø nach Skjervøy, von dort mit dem Schiff zurück nach Tromsø. Die achtstündige Rundreise kostet um 60 Euro pro Person. Nähere Informationen erhalten Sie bei der Touristeninformation Tromsø.
Husky-Tour: Mehrstündige Fahrten mit dem Huskyschlitten wahlweise bei Tag oder Nacht veranstaltet zum Beispiel Lyngsfjord Adventure. Kosten ab 190 Euro pro Person inklusive Essen und Transfer.
Tatsächlich hat Aurora ihren eigenen Willen. Die Verabredung in der stillen Schwärze der Fjorde hält sie nicht ein. Dafür zeigt sie sich in dieser Nacht dort, wo man sie normalerweise nicht sieht: mitten über dem Lichtermeer der Stadt. Wie ein grüner Seidenschal wickelt sie sich um den hölzernen Kirchturm an der Storgata, der Hauptstraße. Und obwohl die Gehsteige im Winter beheizt sind und keine Gefahr besteht, unversehens auf vereisten Platten auszurutschen, hebt kaum einer der Nachtschwärmer den Blick.
Erst bei Minusgraden beginnt das Husky-Training
"Nordlicht? In der Stadt?", fragt der 19-jährige Marko am nächsten Morgen. "Das sieht man sonst nur hier draußen." Marko kommt aus Deutschland und arbeitet auf einer Farm in den Bergen, anderthalb Stunden von Tromsø entfernt. "Bis ich weiß, was ich studieren will, bleibe ich", sagt er. Er kümmert sich um die Huskys der Farm, hilft, sie für Rennen zu trainieren und leitet Ausflüge mit den Hundeschlitten. Es sind alaskische Huskys, drahtige Hunde mit kurzem Fell und dunklen Augen. "Jetzt stehen sie gut im Futter", der junge Mann mit den blonden Locken tätschelt den Rücken von Hannes, der als einer der wenigen im Rudel auch so flauschig aussieht, wie die schmucken sibirischen Huskys, die man aus deutschen Städten kennt, "aber im Sommer war ich richtig erschrocken, wie mager sie sind." Erst wenn das Thermometer Minusgrade anzeigt, bekommen die Hunde wieder große Portionen, denn dann beginnt das Training. Wärme belastet die Muskeln zu sehr.
Die neunköpfige Meute, die im Geschirr vor den zwei Holzschlitten wartet, ist unruhig. "Laufen! Laufen!", scheint ihr Bellen zu sagen. Schwänze wedeln, Nasen werden knurrend in den Schnee gerieben. Sie sind hier zu Hause, das Land der Schneekönigin ist ihr Reich. Ein kleiner Ausflug wäre jetzt recht, signalisieren die scharrenden Pfoten. Und los geht es. Anfangs noch auf einem Weg, dann durch die lichten, blattlosen Birkenwälder, durch Schnee, in dem die Hunde bis zum Bauch einsinken, über Flüsse, deren dicke Eisschicht an manchen Stellen zu scharfkantigen Platten aufgeschichtet ist. Und deren Wasser an den Stellen kalt flüstert, wo die glasige Decke zerbrochen ist und man es fließen sehen kann.
Die Landschaft ist wild, lichtlos und karg
Die Hunde stört das nicht. Sie rennen und bellen dabei vor Freude, zerren den Schlitten über gefrorene Hügel, als wollten sie den Fahrer abschütteln. Manchmal versuchen sie eine Abkürzung: zwei rechts am Baum vorbei, zwei links, und schauen dann verdutzt, wenn sich die Leinen plötzlich straff ziehen, weil der Schlitten am Stamm hängen geblieben ist. So wild wie ihre Gemüter ist auch die Landschaft. Weiß wie die Berge, schwarz wie die wenigen Grashalme, die aus dem Schnee ragen, und blau wie das Eis der Wasserfälle. Karg, lichtlos. Und obwohl nach zwei Stunden Schieben und Bremsen die Gesichter der Schlittenfahrer unter den Kapuzen ihrer Schneeanzüge glühen, wimmern die Huskys, als sie zum Stehen kommen - das kann doch nicht alles gewesen sein?
Am Ende der Route wartet eine Jurte auf die erschöpften Ausflügler. In der Mitte des spitzen Zelts brennt ein Feuer, dicht an den Flammen stehen Metallkessel mit Kaffee und Tee. Es gibt Rentiereintopf aus Holzschalen, der die Löffel grießig werden lässt vom Fett und den Bauch schnell füllt. Zum Abschied stimmen die Hunde ein Gejaule an, das von den Bergen widerhallt. Vielleicht ist es aber auch kein letzter Gruß, sondern ein Ständchen, der eisigen Herrscherin zu Ehren. Es ist früher Nachmittag und fühlt sich an wie später Abend. Vor den Türen der Häuser in Tromsø flackern Fackeln, stehen Laternen Spalier wie für eine Ballnacht. Über den Bergen hat die Schneekönigin ihr schönstes Kleid ausgebreitet: Rosentöne bedecken die Gipfel und streifen die wellenlosen Ränder des Fjords. Und der Schnee entlang der Straßen glitzert im Schein der Laternen. Es sieht aus, als hätte sie dort ihr Collier verloren.