Mutter!, entfährt es Gerald Kassner mitunter. Klingt wie: Mäßige dich! Weil nämlich Doris K., 65, eine gestandene Reisefachfrau, sich so herrlich aufregen kann über arrogante junge Dinger an Hotelrezeptionen, die Gäste wie lästige Bittsteller triezen. Oder über ignorante Architekten, deren Bettenburgen derart touristenfeindlich gebaut sind, dass sie sich nur schwer verkaufen. Mutter!, ruft der 43-jährige Junior dann, soll heißen: Plaudere nicht zu viel aus dem Nähkästchen.
Das sympathische Duo aus Duisburg führt ein Familienunternehmen mit dem verzopften Namen Schauinsland-Reisen. Es fabriziert ein Lieblingsprodukt der Deutschen, die Pauschalreise. Schauinsland kauft Einzelleistungen ein wie Flugsessel, Hotelzimmer, Transfers und Betreuer und bündelt sie, präsentiert die Pakete in bunten Katalogen und bringt sie in 10 000 Reisebüros an die Urlauber.
Urahn der Idee war der britische Verleger Thomas Cook, der 1841 die erste Bahn-Pauschalreise für 500 Abstinenzler organisierte. In der Weimarer Republik erfand der spätere Touropa-Chef Carl Degener die Chose neu. Rezept: Man schlage das Touristengut in großen Mengen um, befördere es in eigens dafür geschaffenen Behältern, beköstige und beherberge es eher bescheiden und gebe zum Ausgleich einen großen Schuss Remmidemmi dazu. Degener bot acht Tage Bayern für revolutionäre 70 Mark an, Folklore inbegriffen.
Seit über 40 Jahren Urlaub von der Stange
Anfang der 60er Jahre drängten die Versandhäuser Quelle und Neckermann ins Reisegeschäft. Die Preise purzelten. Seither gehört Urlaub von der Stange zur sozialen Grundversorgung. Auch viele Arbeitslose können sich Pauschalreisen leisten. 27 Millionen wurden in der vergangenen Saison gebucht. Zwischen 1993 und 2003 stiegen die Ausgaben dafür von 336 auf 732 Euro - plus 118 Prozent. Eine Hamburger Familie mit einem Kind, die sommers zwei Wochen nach Mallorca fliegt und in einem guten Hotel mit Halbpension absteigt, legt dafür bei Schauinsland 2175 Euro hin. Vorausgesetzt, sie hat die Reise schon ein halbes Jahr zuvor gebucht und wurde dafür mit dem branchenüblichen Frühbucher-Rabatt belohnt.
Schauinsland hat Geschichte. 1918 gründet Erich Kassner eine Transport- und Möbelspedition, steigt 1954 ins Busfahrtengeschäft an die Costa Brava und nach Süddeutschland ein. Im Schwarzwald begeistern sich seine Touristen für den Berg Schauinsland, unter dessen Namen er fortan fährt. "Klar, hängen da ein paar Staubwedel dran", gibt Doris Kassner zu. "Aber was sind Kürzel wie Tui oder TC oder ITS oder FTI gegen diesen wunderbaren Namen? Der bleibt, solange ich lebe!"
Des Gründers Sohn, ihr Mann, bietet ab 1961 auch Flugreisen an, etwa mit der LTU nach Mallorca. 1969 kommt Ibiza dazu. "Die Insel lief bei uns ein paar Jahre wie blöde", sagt Frau Kassner, "Hippies und so, das lag im Zeitgeist. Wir haben den Trend gewittert und sind groß eingestiegen. Man muss da ein Bauchgefühl haben." 1997 übernimmt ihr Sohn Gerald die Firma. Er schmeißt die Bustouren aus dem Programm, setzt ganz auf Flugreisen. Bald geht es steil aufwärts.
Heute ist Schauinsland die Nummer 11 der deutschen Pauschalreise-
veranstalter, mit 357 000 Gästen und 207 Millionen Euro Umsatz. Erfolgsrezept: Die Firma bietet auf 1000 Katalogseiten rund 2500 Hotels an, vom einfachsten Apartment bis zum Luxushotel. Vermarktet wird nur die sichere Seite. Zwei Drittel aller verkauften Reisen gehen in Standard-Destinationen wie die Balearen, die Kanaren und nach Griechenland.
Die Renditen sind im Pauschalgeschäft zwar nicht eben üppig - zwei, drei Prozent. Abzüglich aller Kosten, die für Reisebüroprovisionen, Transfers und Gästebetreuung am Urlaubsort anfallen, bleiben bei Schauinsland nur rund 30 Euro pro Gast und Reise hängen. Doch die Masse macht's. Aus ihrem verwinkelten Stammsitz in einem maroden Arbeiterviertel konnten die Kassners vergangenes Jahr mit ihren 104 Mitarbeitern in einen lichten Neubau am Duisburger Binnenhafen ziehen. Gerald, jüngster Spross der Kassner-Dynastie, belegte kürzlich Platz drei beim Wettbewerb der Fachzeitschrift "Touristik Report" um den besten Reiseveranstalter. Begründung: "Behauptet sich nicht nur wacker gegen die übermächtige Konzernkonkurrenz, sondern gewinnt von Jahr zu Jahr deutliche Marktanteile hinzu."
Pauschalreisen seien ein Auslaufmodell, tönen dagegen die Betreiber von Internet-Touristikportalen wie Expedia. In Zukunft würde sich das Gros der Kunden die Reisebausteine selbst aus dem Netz angeln. Für manche Auguren hat bereits das Totenglöcklein der klassischen Package-Tour geschlagen. Die Pauschalreise stecke "in einer tiefen Sinnkrise", werde demnächst "ins Museum verabschiedet", orakelten "Süddeutsche Zeitung" und "FAZ". Wie es mit ihrem Brot-und-Butter-Produkt weitergeht, ist das heißeste Thema der "weißen Industrie".
Wird demnächst jeder Urlauber sein eigener Reiseveranstalter? Theoretisch möglich. Flugangebote, zumindest auf Rennstrecken wie Deutschland-Mallorca, überschwemmen den Markt. Und beinahe jedes Urlauberhotel verkauft seine Zimmer nicht mehr nur en bloc an Veranstalter, sondern auch an Einzelkunden.
Folglich blicken manche Veranstalter sorgenschwer drein. Die Branchenriesen Tui und Thomas Cook (zum Letzteren gehört auch die Marke Neckermann) neigen dazu, ihre unendlichen Problemgeschichten auch einer allgemeinen Pauschalreisemüdigkeit in die Schuhe zu schieben. Er erwarte kein Wachstum mehr, resignierte der - bald darauf geschasste - Thomas- Cook-Manager Jürgen Holtrop im vorigen Jahr. Kunststück: die verwaltenden Wasserköpfe der Konzerne, ihre gefloppten Visionen des "integrierten Konzerns" mit eigener Fluglinie, eigenen Hotels, eigenen Agenturen, eigenem Autoverleih; das ganze Kompetenz-Chaos, selbstmörderische Dumpingaktionen (100 000 Kanarenreisen für unter 300 Euro) sowie schlichte Unfähigkeit von Managern, all diese hausgemachten Fehler der Giganten lassen sich so prima kaschieren.
Doch bei anderen Veranstaltern gehen die guten alten Pauschalreisen weiterhin wie Bananen vom Hänger. Darunter kleine wie Schauinsland, mittlere wie Alltours, aber auch große wie die Rewe-Touristikgruppe (ITS, Jahn-Reisen, Tjaereborg). Was reizt den Gast immer noch an der pauschalen Tour? Gran Canaria, Festung des Massentourismus, Mitte Februar, 22 Grad Celsius. Flug HF 0505 aus Hamburg hat Verspätung, wegen starker Westwinde. Kein Problem: Die Abholer der Veranstalter mit ihren Tafeln harren notfalls Stunden aus. Zeit, über die aktuellen Uniformen der Konkurrenz ("Das FTI-Orange macht einen ja blind!") oder über männliche Reiseleiter in kurzen Hosen ("Entweder Tucke oder Isländer") abzulästern.
Endlich quellen die Gäste, branchenherb Paxe genannt, aus der Schiebetür; mit Kind und Kegel, Hund und Surfbrett, Fahrrad und Golfbag. Manche stecken bereits in hellen Socken und Sandalen, das ultimative Touri-Outfit. "Namen und Hotel bitte", singt Schauinsland-Kraft Melanie, "Ihr Bus steht an Säule A 4." Es ist nicht ganz einfach, sich auf dem kurzen Weg dorthin zu verlaufen, aber manche schaffen es. Irren auf dem Flughafengelände umher, werden aber schließlich eingefangen, ausnahmslos.
Jetzt der erste Test. Wie lange dauert's, bis sich der Bus in Richtung der Hotels in Bewegung setzt? Wird man zügig abtransportiert? Oder muss man eine Stunde oder länger schmoren, bis der Bus mit Passagieren aus späteren Maschinen aufgefüllt ist? Ein guter Veranstalter spendiert Gästen, die lange warten müssten, ein Taxi.
Ein Taxi braucht jedenfalls, wer keine Pauschalreise gebucht hat. Kann teuer werden. Vom Flughafen Gran Canaria bis ins Touristenzentrum Playa del Inglés sind es 50 Euro, macht einen Hunderter hin und zurück. Soll keiner glauben, er könne mal eben auf einen der Veranstalterbusse hüpfen. No way!
Testfall zwei: das Hotel. Hat der Veranstalter bei der Beschreibung gemogelt? Oder war der Urlauber nur zu doof, die üblichen Euphemismen zu dechiffrieren? Seit Jahrzehnten dasselbe Spiel: Die Katalogmacher polieren und beschönigen ihre Ware, und die Katalognutzer versuchen, die Codes zu entschlüsseln. Stimmt ja: Playa del Inglés ist ein "lebhafter" Ort (= höllisch laut); das Hotel XY hat "Meerblick" (= steht unter Umständen auf einem Hügel fünf Kilometer vom Meer entfernt); ein Zimmer ist "einfach, aber zweckmäßig eingerichtet" (= enthält ein durchgelegenes Bett und einen Stuhl mit drei Beinen dran). Am "Naturstrand" müffeln Algen und Müll vor sich hin, und das "internationale Publikum" eines Billig-Hotels kann sich schon mal als alleuropäische Hooligan-Szene entpuppen. Clever gelesen, ist der Reisekatalog ein getreuer Berater. Realistischer jedenfalls als die notorisch widersprüchlichen Urteile auf Hotelbewertungs-Websites wie hotelcheck.de.
In der Regel macht es wenig Sinn, ein im Katalog angebotenes Hotel auf eigene Faust im Internet zu buchen. Das Zimmer wird dadurch nicht billiger - eher teurer. Passieren kann hingegen dies: Der Hotelier hat sein Haus überbucht, und der Individualreisende, ohne einen Veranstalter im Rücken, bleibt auf der Straße stehen. Im Ausland klagen? Ha, ha! Gelinkte Pauschalurlauber können dagegen ihren Veranstalter daheim vor den Kadi ziehen - einer der Gründe für die langlebige Attraktivität der Pauschalreise.
Test drei: die Betreuung vor Ort. Zweimal wöchentlich halten die Reiseleiter in den Hotels Sprechstunde. Manche Gäste wollen das Hotel wechseln, andere ein zweites Zimmer buchen, weil sie sich mit ihrem Partner verzankt haben. Reiseleiter sind auch Sozialarbeiter. Oft können sie helfen. Nach einer Stadtrundfahrt versammelt Schauinsland seine Klienten im Hotel Gloria Palace zum "Info-Cocktail", hauptsächlich eine lyrische Verkaufsveranstaltung für Ausflüge. "Der grüne Norden der Insel, eine andere Welt..." Ausflüge müssen sein. Der Urlauber braucht sie für sein Fotoalbum. Die Reiseleiterinnen, um mit den Ausflugsprovisionen ihre mageren Grundgehälter aufzubessern. Doch gibt es auch nützliche Infos beim Cocktail. Zum Beispiel, bestimmte Meeresströmungen ernst zu nehmen, "sonst werden Sie nichtsitzend zurückgeflogen". Und es gibt eine Handynummer der Reiseleitung für Notfälle. Anzuwählen bei Krankheit, Ärger mit der Polizei und ähnlichem Unbill. "Bitte nicht nachts anrufen, wenn der Zimmernachbar zu laut oder das Klopapier ausgegangen ist", scherzt Reiseleiterin Kerstin. Scherzt? Alles schon vorgekommen.
Sicherheit, Bequemlichkeit, finanzielle Überschaubarkeit - der überkommene Charme der Pauschalreise punktet immer noch. Der Deutsche, im Prinzip vorsichtig, tippt nicht gern seine Kreditkartennummer ins Netz - was er beim Selberbuchen müsste. Weltmeister im Pauschaltourismus, weiß er zudem: Bei Krankheit oder Krisen sind Urlaubs-Einzelkämpfer gekniffen. Da zählt die Zugehörigkeit zu einem Stamm, um zügig heimgeflogen zu werden. Noch etwas spricht gegen den Untergang eines Klassikers. Zwar stimmt es, dass oft angeflogene Zielgebiete wie die Air-Berlin-Domäne Mallorca immer mehr individuell gebucht werden. Aber viele Urlaubsplätze, etwa griechische Inseln, werden von den Billiglinien gar nicht auf eigenes Risiko angesteuert. Dorthin führen nur Charterflüge im Veranstalterauftrag. Schwierig, auf solchen Strecken billige Plätze für individuelle Reisen zu ergattern.
Entscheidend, glaubt Alltours-Chef Willi Verhuven, sei der Preisvorteil: "Bis auf wenige Ausnahmen sind Pauschalreisen günstiger als selbst zusammengestellte Reisen. Unsere Kunden profitieren von den guten Einkaufskonditionen, die wir als Großkunden erhalten." Verhuven setzt voll auf die Pauschale, wie Rewe-Touristik-Chef Dietmar Kastner und der neue Thomas-Cook-Vorstand Manny Fontenla. Für die aktuelle Wintersaison vermeldet Alltours ein Buchungsplus von 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Die neue Masche bei der Pauschalreise heißt ausgerechnet Individualisierung. Schauinsland, Alltours, Rewe und andere haben die alte Tante geliftet. Vorbei die Zeiten, da man nur im Wochentakt buchen konnte und bei den Hotels wenig Auswahl hatte. Heute kann jeder beliebig verreisen, unter diversen Abflugterminen und Hotels wählen. Oder nur das Urlaubshotel buchen und sich vorab einen günstigen Transfer vom und zum Airport bestellen. Tatsächlich, die Bausteinreise boomt - ironischerweise die von der Veranstalterstange. Und der Tourist, das undankbare Wesen? Respektiert er all die Mühe, die man sich mit ihm macht? Oder hängt er nach wie vor verbissen der einsamen Kakerlake im Badezimmer nach, um mit dem schaurigen Videobeweis seinem Veranstalter aufs Dach zu steigen? Schauinsland gibt eine Reklamationsquote von drei Prozent an, wovon die Hälfte sich auf den Flug beziehe. Es war schon schlimmer. Lange Zeit hatten die Großveranstalter bei fast jeder Beschwerde Geld zurückerstattet - Kundenzufriedenheit stand über allem. "Das haben die Gäste sich gemerkt und auch auf uns Kleine übertragen", erinnert sich Doris Kassner schaudernd. "Dabei war es natürlich dumm, auch unberechtigte Reklamationen anzuerkennen. Man kann die Leute mit ein bisschen Geld sowieso nicht an sich binden. Finden sie was vermeintlich Billigeres, laufen sie sofort zur Konkurrenz über."
Und was ruft der Sohn da wieder mal? "Mutter!"