Die Hamburger Verzweiflung verbarg sich in diesem einen Schuss in der Nachspielzeit. Marcus Berg bekam das Leder im Gewühle des Strafraums mustergültig auf den Fuß serviert. Zwar zappelten gefühlte 100 Beine und Leiber in der heißen Zone vor ihm, doch ein versierter Stürmer hätte die Lücken im oberen Torbereich von Leverkusens Schlussmann René Adler genutzt und die mit 57.000 Zuschauern restlos gefüllte HSV-Arena in ein bebendes Tollhaus verwandelt. Berg aber war der Ritter von der traurigen Gestalt und drosch den Ball ins Nirvana. Nichts war es mit dem ersehnten Sieg und dem Sturz des Tabellenführers. Es blieb beim 0:0, das beim ebenfalls weiterhin ungeschlagenen Zweiten HSV mehr Fragen als Antworten hinterließ.
Wer soll bei den Hamburgern in Zukunft die Tore schießen, wo die etatmäßigen Angreifer Mladen Petric (Knöchelverletzung) und Paolo Guerrero (Kreuzbandriss) langzeitverletzt ausfallen? "Wir wissen um die Lage, müssen weiter investieren", gab HSV-Coach Bruno Labbadia nach der Partie ein wenig zermürbt zu Protokoll. Sein Team hatte geackert, gekämpft und 65 Prozent Ballbesitz gehabt, doch zu keiner Zeit des Spiels den Eindruck erweckt, die Werkself bezwingen zu können. "Die Situation ist nicht schön, da müssen wir als ganze Mannschaft durch", klang Labbadia fast schon fatalistisch.
Hamburgs Sturmdilemma
Das Hamburger Sturmdilemma wurde dadurch gekennzeichnet, dass Trainer Bruno Labbadia zunächst den unerfahrenen 19-jährigen Youngster Tolgay Arslan vorne aufbot, als dieser verletzt raus musste (39.) den gleichaltrigen Tunay Torun. Auch Torun mischte zwar fröhlich mit, auch er kam zu einer Großchance. Doch der bullige Offensivmann scheiterte ebenso kläglich freistehend (77.), wie später der im Sommer für rund zehn Millionen Euro verpflichtete schwedische Hoffnungsträger Berg. Es sind auch die gestalterischen Fähigkeiten des Topduos Petric/Guerrero, die dem HSV abgehen. Vor allem HSV-Chefdirigent Zé Roberto fehlten die kongenialen Mitdenker seiner virtuosen Offensivaktionen.
Auf der anderen Seite hatte Bayer-Coach Jupp Heynckes alle taktischen Register gezogen und sein Team stark defensiv orientiert eingestellt. Immerhin hatten die "Rothosen" sämtliche vier Heimspiele dieser Saison gewonnen, selbst Bayern München mit 1:0 nach Hause geschickt. Auch vor drei Wochen mussten sie sich lange gedulden, ehe Petric in der 72. Minute im Stile eines Strafraumkillers eiskalt verwertete.
Leverkusener Rasenschach
Doch diesmal drohte das Leverkusener Rasenschach die Hausherren zu zermürben. Lange Zeit sah es so aus, als wollte Bayer dieses 0:0 verwalten. In Hälfte zwei öffneten die Gäste dann zusehends ihre Pforten und staffelten sich sukzessive höher in das gegnerische Territorium. "Wir wollten erst abwarten, um sie dann zunehmend aus der Reserve zu locken", kokettierte Leverkusens Mittelfeldmotor Simon Rolfes hernach.
Trotz des ganzen Geplänkels war zu jeder Zeit erkennbar, dass es um nicht weniger als die Tabellenspitze ging. "Es war hochkarätig, wenn man gesehen hat, wie der Ball lief", erkannte Adler richtig. Es wurde viel gearbeitet, die Zweikämpfe hart, meist aber fair geführt. Der attraktive Angriffsfußball, der beide Teams bis dato so sehr ausgezeichnet hatte, blieb allerdings auf der Strecke
Heynckes Masterplan geht fast auf
In den letzten fünf Minuten wäre Heynckes' Masterplan dennoch fast aufgegangen. Erst war es der finnische Abwehrrecke Sami Hyypiä, der nach einer Ecke freistehend zum Kopfball kam (86). Drei Minuten später setzte sich der Anführer der Torjägerliste, Stefan Kießling, in einem Zweikampf durch und bugsierte den Ball aus nächster Nähe auf das HSV-Tor. Beide Male musste Hamburgs Schlussmann Frank Rost all sein Können aufbieten, um die Niederlage zu vermeiden.
"Wir haben von der Kompaktheit in der Defensive gelebt", sagte Heynckes mit der Demut und Weisheit eines 100-jährigen Indianerhäuptlings und versuchte dann auch noch die Journalisten auf die verkehrte Fährte zu locken, indem er tiefstapelte: "Wir sind hinten nicht so gut rausgekommen, ich hätte mir im Angriff mehr Aktion gewünscht." Sein Oberindianer Kießling grinste derweil zufrieden: "Die Hamburger hatten mehr vom Spiel, wir die besseren Chancen."