Leichtathletik Gold-Bolt fliegt in eine neue Galaxie

Von Jens Fischer, Peking
Das Pekinger "Vogelnest" geht in die Geschichte ein. Usain Bolt ist nicht nur Olympiasieger über die 100 Meter geworden, er ist an diesem Abend auch in neue Dimensionen vorgestoßen. 9,69 Sekunden, Weltrekord! Und der 21-jährige Jamaikaner hätte durchaus eine Zehntel schneller laufen können. Zurück blieben 91.000 fassungslose Menschen.

Am Ende blieb nur ungläubiges Staunen. Rund 30 Meter vor der Ziellinie hörte er auf voll durchzuziehen, schaute kurz nach links und rechts, und als er weit und breit keinen seiner Rivalen sah, breitete er die Arme aus und lief mit überzeugtem Klopfen auf die Brust über die Ziellinie. Usain Bolt ist der Olympiasieger über die 100 Meter. Aber Bolt ist noch viel mehr. Der Jamaikaner ist in eine neue Dimension des Männersprints vorgestoßen. Weltrekord mit 9,69 Sekunden, eine famose Zeit, aber das Wahnsinnige an der Bolt-Show ist: Dieser drahtige Typ mit seinen langen Beinen hätte an diesem lauen Sommerabend auch 9,5-irgendwas laufen können. Er hatte es schlichtweg einfach nicht nötig.

Selten waren Zuschauer so beeindruckt nach einem Leichtathletik-Wettkampf wie nach diesem 100-Meter-Feuerwerk des Usain Bolt. Die Leute sprangen auf, schauten sich an, es dauerte, bis überhaupt der erste Jubel ausbrach. Zu außerirdisch war das, was auf der roten Bahn im "Vogelnest" gerade passiert war. "Wow, he could run 9,50", schrien sich die überdrehten Cola-Trinker aus Amerika an. Ja, das hätte er. 9,50 Sekunden, eine Zeit, von der man nie gedacht hätte, dass ein Mensch sie anatomisch in der Lage ist zu laufen. Bolt kann es - wenn er will. Das hat er hier bewiesen.

Aufschrei aus 91.000 Kehlen

Rückblick: Exakt um 22.21 Uhr Ortszeit betreten die dunkelhäutigen Muskel-Maschinen das Stadion und ein Aufschrei aus 91.000 Kehlen begleitet ihren Auftritt. Endlich beginnt es, das größte Rennen aller Zeiten, das Highlight aller sportlichen Duelle dieser Olympischen Sommerspiele 2008. In den Minuten zuvor kürten sowohl die Kugelstoßerinnen als auch die Siebenkämpferinnen ihre Olympiasiegerin - beide Wettkämpfe wurden absorbiert, niemand wusste genau, wer denn jetzt gewonnen hat. Das gigantische "Vogelnest" ist elektrisiert, allen im Stadion ist ins Gesicht geschrieben: Heute passiert Historisches.

Von den Endlaufteilnehmern waren bereits im Halbfinale sechs Sprinter unter den magischen zehn Sekunden geblieben. Auf den Bahnen drei und sechs machen sich die beiden großen Favoriten auf den Olympia-Sieg bereit. Usain Bolt gegen Asafa Powell - das Karibik-Duell, das Duell der beiden Freunde aus Jamaika soll das Ereignis werden, das mehr als eine Milliarde Menschen vor den Bildschirmen auf der ganzen Welt in seinen Bann zieht. Dass Powell später enttäuschender Fünfter wird, damit rechnet zu diesem Zeitpunkt niemand.

"Es gibt kein perfekteres Rennen für einen Sieg", meinte Bolt im Vorfeld der Spiele. Er hatte von seinen letzten zehn Rennen fast jedes gewonnen, dementsprechend selbstbewusst steht er an seinem Startblock. Winkt kurz in die Menge, macht seine üblichen Späße, mit konzentrierter Miene, widmet sich kurz seinen massigen Oberschenkeln, klopft sie ab, damit während des Rennens seines Lebens keine Verletzung den großen Traum zerstört. Powell steht drei Bahnen neben ihm und bleibt ganz cool. Kaum eine Regung, als er auf der großen Leinwand eingeblendet wird, er hat bereits abgeschaltet, nur noch die üblichen Abläufe im Kopf: Springen, zum Startblock, in die Hocke und die optimale Position finden. Die anderen Läufer sind in diesem Moment nur nettes Beiwerk. Dass am Ende Richard Thompson aus Trinidad und Tobago in 9,89 Sekunden die Silber- und der US-Boy Walter Dix (9,91) die Bronzemedaille gewinnen werden, bekommt nach Bolts Wunder-Lauf fast niemand mit.

"Der Rekord von Usain - Wahnsinn!"

Mit seinen sagenhaften 9,69 Sekunden verbesserte Gold-Bolt seinen eigenen Weltrekord vom 1. Juni diesen Jahres in New York um drei Hundertstel Sekunden. Auch Silbermedaillengewinner Thompson kann nur Staunen: "Der Rekord von Usain - Wahnsinn! Das ist ein fantastischer Athlet." Als eben dieser fantastische Athlet nach seinem Einlauf jubelnd austrudelt, muss er selber konsterniert gewesen sein. Zumindest blickt er mehrmals auf die Anzeigentafel, um seine Fabelzeit zu begreifen. Und als er oben in Nahaufnahme gezeigt wird, sieht man ihm förmlich an, dass er noch lange nicht sein Bestes gegeben hat. "Ich wusste, dass es so passieren würde. Das sind schon gute Jungs, die mithalten - da muss man schon einiges bieten", sagt der noch atemlose Olympiasieger.

Auf der Gegenbahn findet Bolt dann diejenigen, die ihm am wichtigsten sind: Seine jamaikanischen Schwestern und Brüder. Freunde, Verwandte, seine Mannschaft, Trainer und Betreuer - er will sie alle umarmen und mit ihnen glücklich sein. Als Bolt später seine Ehrenrunde läuft, ist eine merkwürdige Stimmung im Stadion. Alle schauen sich immer noch fragend an. In der Hoffnung, einer könne ihnen erklären, was gerade passiert ist. Wie ein Mensch so schnell laufen könne. Es kann in diesem Augenblick niemand.

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