Bode Miller Er macht sie alle ganz irre

Auf seine Trainer hört er selten. Wenn er einen guten Lauf hat, fährt er seine Gegner in Grund und Boden. Der amerikanische Naturbursche könnte den Ski-Weltcup gewinnen. Doch Ergebnisse sind ihm egal.

Ein kurzer Blick zur Anzeigetafel, und Bode Miller weiß, dass nur ein Wort diesen Trainingsvormittag treffend zusammenfasst: shit. Er steigt aus der Bindung, öffnet die Schnallen seiner Skistiefel, guckt noch mal ungläubig: eineinhalb Sekunden Rückstand, und die Besten kommen erst noch.

Er schultert seine Ski und latscht die paar Meter rüber zu seinem Wohnmobil. Miller zieht den Rennanzug aus, streift sich eine schlabbrige Cordhose über, zieht ein knautschiges T-Shirt an und haut sich barfuß in der Sitzecke hin. Er sagt: "Oh, Mann, das wird ein verdammtes Mädchenrennen." Miller mag es bocksteil und eisig, aber die Piste in Chamonix ist so flach, da kommen selbst bessere Anfänger unverletzt herunter.

Trotzdem wird er zwei Tage später in der Abfahrt alles riskieren, und es sieht mal wieder so aus, als würde er im Fangnetz enden; Miller rast durch die Kurven - so extrem, dass er sich mit dem Knie fast die Zähne ausschlägt. Und am Tag drauf wird er akrobatisch durch die Slalomstangen tanzen, Superzeit im zweiten Lauf; Sieg in der Kombination, und er wird im Gesamtweltcup zur Spitze aufschließen. Wenn auch mit geschwollenem Kiefer.

Die Leute lieben ihn ja für seinen irren Fahrstil - wenn er ins Ziel kommt, dann oft auch als Schnellster: cash or crash. Und wenn jemand an diesem Wochenende auf der legendären Streif in Kitzbühel den selbstgefälligen Österreichern die Party versauen kann, dann ist es Miller. Im Prinzip hat er dort in jeder Disziplin beste Siegchancen - allerdings kann er sich auch in jeder Disziplin den Hals brechen. Nur eines ist sicher: Seine Trainer treibt er so in den Wahnsinn.

Phil McNichol, der Cheftrainer des US-Skiteams, hat leicht angegrautes Haar; das spricht dafür, dass er schon einiges erlebt hat. Einer wie Bode ist ihm wohl noch nie untergekommen. Anfang der Saison dachte man, Miller werde die Konkurrenz platt machen; Bode gewann die ersten Rennen mit unverschämter Leichtigkeit, dann legte er ein paar Wochen ein, in denen er sein Talent nur selten ins Ziel brachte. Krisensitzungen. Phil schüttelt den Kopf, er sagt: "Bode reicht es, wenn er einen tollen Skitag hat." Phil sagt: "Aber wir sind doch nicht in einer Selbsterfahrungsgruppe."

Phil, das ist schwer zu begreifen,

liebt diesen Jungen: "Er ist ein kluger Bursche, vor allem - er hat eine eigene Meinung." So wurde Bode, 26, auch erzogen: Seine Eltern unterrichteten ihn bis zum vierten Schuljahr selbst; er wuchs auf in den Wäldern im Öko-Bundesstaat New Hampshire, zu Hause gab es keinen Strom, kein fließendes Wasser. "Wenn ich die Storys über mich lese", sagt Bode, "klingt das immer, als wäre ich bei Höhlenmenschen groß geworden." Dabei ist sein Großvater Arzt, der Vater stand kurz vor dem Durchbruch zum Tennisprofi und betreibt heute ein Tenniscamp in Tamarack auf dem 162 Hektar großen Anwesen der Familie. Und nein, dieses so genannte Hippiekind wurde auch nie von seinen Eltern zur Marihuana-Ernte gezwungen.

Vielleicht trifft "Naturbursche" besser auf ihn zu. Er hat dieses angeborene Gefühl für Bewegung und Balance, das hat ihn als Jugendlichen zum Landesmeister im Tennis gemacht, das ermöglicht ihm ein Golfhandicap vier. Natürlich ohne viel Training. Phil McNichol nennt es Purismus - die Tatsache, dass Bode sich nicht schleifen lässt, nicht mal an sich feilen. Einem traditionellen Arlberger Skilehrer stellt es die Nackenhaare auf, wenn er Miller fahren sieht, auch die Trainer an der Carrabassett Valley Academy in Maine haben ihm seinen Stil nicht ausreden können. Und so ist das bis heute geblieben: Miller hört sich alles an, dann geht er seinen eigenen Weg. Meist in die entgegengesetzte Richtung.

So einer lässt sich nicht domestizieren. Das ewige Hotelwechseln hat ihn genervt, einpacken, auspacken, nie richtig ankommen, nirgendwo zu Hause sein. Also tourt Miller seit Dezember im Wohnmobil durch die Alpen, sein alter Schulkumpel Jake Serino chauffiert das knapp zehn Meter lange Viech über haarsträubende Pass-straßen. Es ist eine Art rollende Studentenbude: Im Schlafzimmer hängt ein Flachbildschirm für die Playstation, über der Sitzecke thront eine gigantische Stereoanlage, leider ist die Satellitenschüssel für den Fernseher in Alta Badia eingefroren und seither kaputt. šberall fliegen Klamotten rum, Turnschuhe, Skistiefel, es riecht ein bisschen nach Socken. Da fühlt man sich doch gleich heimisch.

Das BodeMobile parkt immer in Zielnähe, damit er zu Fuß zum Rennen gehen kann; und weil nebenan dieÜ-Wagen der Fernsehteams stehen, patrouillieren hier Sicherheitsleute. Sollten die Fans so aufdringlich sein wie neulich in Flachau, reißen Bode und Jake einfach die Dachluke auf und schmeißen Silvesterböller raus. Dann ist wieder Ruhe. Und die Partyzelte nebenan? Wie sollen die jemanden stören, der zum Einschlafen Hardcore-Techno hört und "Thunderstruck" von AC/DC?

Miller schließt sein i-pod an die Stereoanlage an. Die Talking Heads singen "Wild, Wild Life", und Jake, der sommers im Tenniscamp von Bodes Eltern kocht, serviert das Mittagessen: Pasta von Bodes italienischem Sponsor, oder ist das Suppe? Jake hat Maurer gelernt.

Klingt nach Abenteuerreise. Vielleicht aber fand er für sich bloß die einzig erträgliche Art, diesen Job zu machen. Miller ist ein freundlicher Kerl, nett zu Fans und Presseleuten, ein Superkumpel für seine Teamkollegen, selbst für die österreichischen Konkurrenten. Aber ein Clown ist er nicht, eher ein notorischer Grübler. Er sagt: "Ich denke täglich darüber nach aufzuhören." Zu viele Opfer, die er bringen muss: Vergangenes Jahr ging die langjährige Beziehung mit Lizie kaputt, und er muss sich Strukturen unterordnen, die er eigentlich nicht akzeptiert.

Ob zwei Goldmedaillen bei der letzten Ski-WM in St. Moritz so was kompensieren können? Zwei Silbermedaillen bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City? Die Millionen Dollar, die er inzwischen verdient? Miller sagt: "Mir geht?s um Spaß und nicht darum, einen Pokal im Schrank stehen zu haben." Er sagt: "Ich scheiße auf Ruhm - und aufs Geld."

Die Welt des Bode Miller

ist im Grunde die eines romantischen Adrenalinjunkies: die Faszination der Geschwindigkeit, der Rausch, mit zwei Brettern die Grenzen der Physik auszutesten. Die Welt um Miller herum aber ist die der Stoppuhren und Ergebnislisten, der Trainer, deren Job von seinen Resultaten nicht unerheblich abhängt - und die Welt der Sponsoren, für die Romantik naturgemäß weniger zählt als Begriffe wie return of investment.

Nicht einfach, mit diesem Sturkopf auszukommen. Das Team versammelt sich zur Videoanalyse im Mannschaftshotel in Le Lavancher. Auch Bode ist die paar Kilometer rübergefahren. Als sein Trainingslauf auf die Leinwand projiziert wird, zeigen ihm die Trainer seine Fehler in Einzelbildauflösung. So recht mag Bode das nicht einsehen. Es wird diskutiert, am Ende lachen alle. Hat ja eh keinen Zweck. Dennoch nimmt sich Phil McNichol seinen Star noch mal vor: Was Miller eine Pechsträhne nennt, sei taktisches Fehlverhalten; er solle endlich sicherer fahren. Absoluter Albtraum. Und wäre Bode erneut ausgeschieden, hätte es ein Wochenende später stupides Training gegeben anstatt des Weltcup-Slaloms am Lauberhorn in Wengen. Absolute Höchststrafe.

Natürlich wird er die Drohung nicht so ernst genommen haben. Auch das ist typisch Miller: Kurz bevor es richtig Ärger gibt, kriegt er doch noch die Kurve.

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