Il Palio di Siena Eine Frage der Ehre

Auf der Piazza del Campo, dem einzigartigen Muschelplatz Sienas, findet seit Jahrhunderten das berühmte Pferderennen Palio statt. Für die rivalisierenden Contrade - die Stadtteile - geht es dabei um eine Entscheidung zwischen Himmel und Hölle.

Menschenmassen, bunte Fahnen, Freudenschreie, ein mit gelber Erde bedeckter Platz, zehn Pferde und ihre Reiter: Zweimal im Jahr, am 2. Juli und am 16. August, steht ganz Siena Kopf. Es sind die Tage des weltberühmten, halsbrecherischen Pferderennens "Palio di Siena", das zu Ehren der Jungfrau Maria, Schutzpatronin Sienas, abgehalten wird.

Der große Tag

Der Tag des Palio dämmert herauf. Überall herrscht hektisches Treiben, die letzten Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. In den Kirchen der Contrade werden die Pferde gesegnet. Die Luft ist zum Zerreißen gespannt: Die Fantini - Jockeys - und Zuschauer fiebern dem großen Ereignis entgegen. Obwohl die Vorbereitungen und Feierlichkeiten des Palio das ganze Jahr laufen, dauert das Rennen selbst nur etwa anderthalb Minuten. Für die Contrade bedeuten diese Sekunden alles: Es geht um die Ehre eines ganzen Stadtteils. Nur jeweils zehn der siebzehn Contrade dürfen teilnehmen und ziehen mit dem bunt geschmückten Festzug in das Herzstück Sienas - den Piazza del Campo - ein.

Wie eine Muschel liegt der Platz zwischen den gotischen Palästen und Bürgerhäusern - ein Anblick, der sich seit Jahrhunderten nicht verändert hat. Am Tag des Rennens allerdings verschwindet der Piazza unter einer dicken Schicht gelben Sandes. Rund um die Arena sind Tribünen für zehntausende von Zuschauern aufgebaut. So verwandelt gleicht der Campo dem antiken Piazza einer Gemeinde ländlichen Ursprungs, so als ob sich die Zeiten nicht gewandelt hätten.

Gnadenlos und halsbrecherisch

Rund um den Platz hängen farbprächtige Fahnen mit den Wappen der Contrade. Wobei die Stadtteile symbolträchtige Namen wie Schnecke, Drache, Wölfin, Muschel, Einhorn, Adler oder Nashorn tragen. Auch die Sienesen sind ganz im Zeichen ihrer Contrade unterwegs: Sie tragen Tücher, Abzeichen, Krawatten, ja sogar Kleider in den Farben ihres Stadtteils.

Kurz vor dem Start verteilt ein Wachposten noch Ochsenziemer an die Fantini, die das Rennen noch härter und mitleidloser gestalten. Die Gemüter sind zum Zerbersten gespannt. Der Startschuss fällt: Pferde und Reiter schießen im rasenden Tempo aus dem Innenhof des Entrone - dem Rathaus - heraus.

Die mutigen Fantini reiten ihre Tiere ohne Sattel und versuchen gnadenlos sich gegenseitig zu behindern. Schwere Unfälle sind an der Tagesordnung. Reiter werden heruntergeschleudert, manchmal stürzen sogar Pferde - fast nie geht es ohne Verletzungen ab. Der Palio gleicht einer risikoreichen harten Schlacht, bei der nur der Sieg zählt. Die Pferde müssen den Platz auf der Rennbahn dreimal umrunden. Nicht selten kommt es vor, dass ein Pferd das Ziel ohne Reiter erreicht. In diesem Fall entwickelt sich der stürmische Enthusiasmus der Sienesen in zärtliche Liebe zu dem Tier, und das reiterlose Ross wird als schicksalsträchtiges Wundertier verehrt.

Nach dem Rennen ist vor dem Rennen

Viel zu schnell ist das Rennen vorbei. Da zwischen den Contrade oftmals erbitterte Rivalität herrscht, ist die größte Schmach nicht etwa der letzte Platz, sondern der Sieg einer verhassten Contrada. Ist das Palio gelaufen, kennen Freude und Schmerz keine Grenzen mehr: Sie sind uneingeschränkt, dauern tagelang an. Lobpreisungen und Umzüge dauern bis in den September hinein. Es heißt, Siena sei wie der Palio, und der Palio sei wie das Leben.

Stefanie Mülheims

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