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Urteil des Tribunals zum Genozid an Uiguren Sie erlebte den Horror der chinesischen Lager: "Die Albträume enden nie"

Sayragul Sauytbay
Sayragul Sauytbay, 43, gehört zum Volk der Kasachen, das Kleid stammt aus ihrer Heimat. Heute lebt sie in Schweden
© Johan Bävman
In London urteilte ein unabhängiges Tribunal aus Menschenrechtsanwälten, Ärzten und anderen Experten nun: China verübt Genozid an den Uiguren in der Provinz Xinjiang. Sayragul Sauytbay sagte hier als eine von 70 Zeugen aus. Sie war selber in einem der Umerziehungslager inhaftiert. Die 43-Jährige spricht seitdem für mehr als eine Million Opfer in ihrer Heimat. 

Das unabhängige Tribunal in London schreibt in seinem Urteil, es habe Beweise für Folter, Menschenrechtsverletzungen und sexuelle Gewalt gegen das Volk der Uiguren in China gefunden. Und auch, wenn es keine Beweise für Massentötungen gebe, zeigten Sterilisierungen und Geburtspräventionen "genozidale Absichten". Die Verantwortung lasse sich verfolgen bis hinauf in die höchsten Bereiche der Kommunistischen Partei und der chinesischen Regierung. Das Tribunal selber hat keine politische Macht, sein Urteil keine direkten Auswirkungen.

Und doch hat das Tribunal schon vor diesem Urteil für diplomatische Verwerfungen gesorgt: Die chinesische Regierung verneint vehement jedwede Menschenrechtsverletzung in Xinjiang. Im September hatte Peking ihren britischen Gegenpart aufgefordert, die Anhörungen zu unterbinden. "Man sollte diesen Leuten nicht erlauben, Gerüchte über China zu verbreiten – denn wenn sie dies tun, unterwandern sie den guten Willen und das Vertrauen zwischen unseren beiden Völkern", sagte der chinesische Botschafter in London, Zheng Zeguang. Er verurteilte das Tribunal als "politische Manipulation, die China in Verruf bringen will." 

Der stern sprach im vergangenen Jahr mit der Zeugin Sarygul Sauytbay in ihrem Exil in Schweden.

Ein Sonntag im Juni 2020. Sayragul Sauytbay steht in ihrem Wohnzimmer in Schweden und blickt auf ein Kinderbild, das vor ihr an der Wand hängt. Das Bild ist nicht groß. Darauf zu sehen ist eine rote Blume mit grünen Blättern, die unter einer Glashaube eingepfercht ist. "Meine Tochter hat mir dieses Bild gemalt. In der Zeit, in der ich im Lager war", sagt Sauytbay. Bei all dem, was hinter ihr liege, schenke ihr das Bild manchmal Trost, so die 43-Jährige.

Das Innere eines Lagers
Dieses Bild aus einem Umerziehungslager im ­Bezirks Chotan wurde im ­April 2017 auf einem Social- Media-Kanal der chinesischen Regierung veröffentlicht. Es ist eine der wenigen Aufnahmen aus dem Inneren eines solchen Lagers
© Europa Verlag

Über das, was hinter ihr liegt, hat Sauytbay der Autorin Alexandra Cavelius viele Interviews gegeben, die daraus ein beeindruckendes Buch gemacht hat. Es ist ein Bericht über unfassbare Verbrechen, die täglich in den Umerziehungslagern Chinas in der Region Xinjiang an verschiedenen muslimischen Minderheiten begangen werden. Auch Sauytbay wurde dorthin verschleppt und musste mehrere Monate im Lager als Lehrerin arbeiten. Ihre Berichte über das, was sich dort abspielte, sind so unfassbar wie einzigartig. Denn Sauytbay ist die erste Über­lebende, die sich als zwangsrek­rutierte Ausbilderin öffentlich zu Wort meldet und Einblick in die Organisation und die geheimen Dokumente der Lager erhielt. Das macht sie zur Kronzeugin gegen eine Weltmacht, die sie bis heute ­bedroht. Ihre Schilderungen decken sich mit vielen Erfahrungsberichten Überlebender, die auch der stern in Kasachstan sammelte, und mit den Recherchen von Hilfsorganisationen, die seit Jahren Informationen über die Lager zusammentragen.

Frau Sauytbay, wie würden Sie die Frau beschreiben, die Sie vor dem Lager waren?
Ich war stets ein sehr pflichtbewusster Mensch und habe als Direktorin mehrerer Kindergärten gearbeitet. Wirtschaftlich ging es meiner Familie gut. Bei uns wurde viel gelacht und getanzt. Ich habe die Musik von Modern Talking geliebt und Literatur von Alice Munro. Außerdem habe ich mir gern die Zukunft ausgemalt. Und von Reisen geträumt.

Würden Sie sagen, dass es diese Frau heute noch gibt?
Nein. Ich bin eine andere jetzt. Mein Körper und meine Seele sind anders. Ich bin viel stiller geworden. An manchen Tagen habe ich den Eindruck, ich sei eine Maschine, bin von einer seltsamen Bewusstlosigkeit befallen.

Was geschieht, wenn Sie von dem sprechen, was Ihnen widerfuhr?
Ich brauche jedes Mal Tage, um mich davon zu erholen. Meistens bekomme ich schlimme Kopfschmerzen, nachts habe ich dann Albträume. Ich sehe Menschen mit rasierten Köpfen neben meinem Bett stehen, die mich um Hilfe anflehen. Ich stehe auf, gehe ins Bad, aber wenn ich die Augen schließe, gehen die Albträume weiter. Es endet nie.

Gebäude, Mauer, Wachturm und Stacheldraht des „Artux City Berufsausbildungs- und Trainings-Zentrums“
Das Foto vom 2. Juni 2019 zeigt Gebäude, Mauer, Wachturm und Stacheldraht des „Artux City Berufsausbildungs- und Trainings-Zentrums“ im Norden der Stadt Kashgar in der Provinz Xinjiang. China sagt, dass in diesen Einrichtungen Muslime deradikalisiert werden sollen
© AFP/Getty Images

Warum reden Sie trotzdem?
Ich will den Menschen in den Lagern helfen. Und die Welt muss in Bezug auf China verstehen, mit wem sie es zu tun hat. In meiner Heimat werden Millionen Menschen in faschistischen Lagern zerrieben und zerstört.

Sayragul Sauytbay
Sayragul Sauytbay stammt aus einer kasachischen Familie in China. Der Vater war Lehrer, er hatte die Schule in ihrem Dorf selbst aufgebaut. Bildung war ihm wichtig, alle seine neun Kinder studierten an der Universität, wie hier Sauytbay 2007. Später leitete sie Kindergärten
© Europa Verlag

Sie sind muslimische Kasachin und stammen aus der Region Xinjian, im Westen Chinas. Was muss man über Ihre Heimat wissen?
Ich komme aus einem eigentlich unabhängigen Land, das von der Kommunistischen Partei Chinas besetzt worden ist. Es ist das Mutterland der Kasachen, Kirgisen, Uiguren und anderer Ethnien. Der Name "Xinjiang" stammt von der Kommunistischen Partei. Der echte Name meiner Heimat lautet Ostturkestan. Es ist ein Land von unglaublicher Schönheit. In meiner Kindheit wohnten wir in einem Holzhaus am Fuße des Tienschan-Gebirges. Am liebsten erinnere ich mich an diesen wunderbaren, süßen Geruch des Feuers und des Tees, wenn meine Mutter morgens für die gesamte Familie Frühstück machte. Während des Essens spielte mein Vater Dombra, die kasachische Gitarre, und alle neun Kinder mussten schweigend essen.

Wann begann sich Pekings Einfluss in Ihrer Heimat zu verstärken?
Richtig los ging es um das Jahr 2000. Damals zogen immer mehr Chinesen nach Xinjian. Peking verfolgte den Plan, durch verschiedene Initiativen und Vergünstigungen mehr Han- Chinesen in die Region zu locken. Die guten Jobs wurden nur an Chinesen vergeben. Die einheimischen Uiguren und Kasachen wurden als minderwertig eingestuft.

Wie gingen diese Diskriminierungen in den nächsten Jahren weiter?
Es zeigte sich bald, dass es Peking nicht nur darum ging, unsere muslimische Tradition und Kultur zurückzudrängen, sondern sie zu zerstören. 2006 wurde ein Gesetz eingeführt, durch das Lehrerstellen zu 80 Prozent mit Chinesen besetzt sein mussten. In der Schule, in der mein Mann und ich zu dieser Zeit arbeiteten, führte das zu zahllosen Entlassungen. Zudem durfte schon bald nicht mehr auf Kasachisch unterrichtet werden, obwohl es offiziell eine "zweisprachige Bildungspolitik" gab. So ging es weiter.

Was löste der Widerstand aus, den insbesondere die ebenfalls muslimischen Uiguren leisteten?
Die Aufstände und Anschläge machten alles nur schlimmer. Zunächst wurden Moscheen zerstört, und alles Islamische wurde verboten. Danach galt jeder Muslim als Terrorist.

Was wollte die Partei erreichen?
Sie behauptete, dass alle Maßnahmen der Sicherheit und dem Frieden dienen, aber tatsächlich verwandelte sie unsere Heimat in einen gewaltigen Überwachungsstaat. Überall wurden Checkpoints und Kameras aufgebaut, man musste Stimmproben abgeben, und es gab eine Hotline, wo wir Vergehen unserer Nachbarn anzeigen und sie in Gefängnissen verschwinden lassen konnten.

Wann hatten Sie und Ihr Mann das erste Mal den Gedanken, das Land zu verlassen?
Dieser Gedanke kam uns immer wieder. Den Ausschlag gab dann unser damals dreijähriger Sohn, der sich weigerte, in den Kindergarten zu gehen. Wir fanden heraus, dass die chinesischen Erzieher den kasachischen Kindern, wenn sie Kasachisch sprachen, zur Strafe mit Klebeband den Mund zuklebten.

Ihr Mann verließ mit den Kindern im Juli 2016 China, allein. Warum?
Die Behörden hatten meinen Pass konfisziert. Wir hatten noch Hoffnung, dass ich ihn zurückbekomme. Ich wollte nachkommen.

Sayragul Sauytbay und Ehemann Wali
Ehemann Wali lebte mit den Kindern seit 2016 in Kasachstan. Jahrelang hörte das Ehepaar nichts voneinander, alle Kommunikation aus Xinjiang war gekappt worden
© Johan Bävman

Wussten Sie zu dieser Zeit schon von der Existenz der Lager?
Menschen verschwanden bereits: Nachbarn, Verwandte, Freunde. Immer nachts. Wir wussten nicht, wohin man sie brachte, aber es gab Gerüchte. Im November 2016 fand dann nachts ein geheimes Treffen statt, wo wir Lehrer darüber informiert wurden, dass sogenannte Berufsbildungszentren geplant wurden. In großem Umfang. Es hieß, um die muslimischen Separatisten zu deradikalisieren.

Konnten Sie damals mit Ihrem Mann in Kasachstan sprechen?
Nein. Weil alle Verbindungen über Internet, Telefon und WeChat nach Kasachstan im November 2016 gekappt wurden. Die offiziellen Stellen sagten, das sei nur vorübergehend, um den religiösen Terrorismus zu bekämpfen. Aber es verschwanden noch mehr Menschen.

Wie würden Sie die Stimmung in dieser Zeit beschreiben?
Die Menschen waren wie paralysiert. Die Angst war überall. Es gab viele Selbstmorde, und viele Leute schlossen ihre Geschäfte, weil sie glaubten, ohnehin bald abgeholt zu werden. In den Wohnungen hingen Tüten an der Tür, die man schnell greifen konnte, wenn man abgeholt wurde. Auch ich hatte so eine.

In Ihrem Buch beschreiben Sie eine weitere Maßnahme unter dem Begriff "Familie werden". Was steckt dahinter?
Es war Psychoterror. Jeder von uns war gezwungen, acht Tage im Monat im Haushalt eines Chinesen zu essen und zu schlafen, damit wir die chinesische Kultur richtig lernen. Wir Muslime mussten zum Beispiel Schweinefleisch essen. Beweisfotos mussten immer an die Behörden geschickt werden.

Mussten Sie dies auch?
Ich hatte etwas Glück, weil ich den Chinesen, dem ich zugeordnet wurde, kannte. Ich flehte ihn an und gab ihm jeden Tag Geld, damit mir nichts geschah. Aber viele andere Mädchen und junge Frauen wurden vergewaltigt. Wer nicht tat, was die Chinesen wollten, konnte jederzeit im Lager verschwinden. Wir waren ihre Sklaven. Es gab viele Selbstmorde aus Scham, weil die Chinesen sich mit den Fotos davon brüsteten.

Hatten Sie zusätzliche Probleme, weil sich Ihr Mann und Ihre Kinder nach Kasachstan abgesetzt hatten?
Ja. Ich wurde deshalb mehrfach nachts von der Polizei abgeholt und befragt. Bei diesen Verhören wurde ich geschlagen und angeschrien. Sie warfen mir vor, geheime Verbindungen nach Kasachstan zu haben und eine Spionin zu sein. Am nächsten Tag allerdings musste ich ganz normal meiner Arbeit nachgehen.

Was geschah dann im November 2017?
Ich bekam mitten in der Nacht einen Anruf. Jemand von der Polizei befahl mir, mit meinem Auto an eine Kreuzung zu kommen, wo man mich abholen würde. Als ich fragte, warum, sagte man mir, ich würde an einer Umschulung in einer anderen Provinz teilnehmen.

Warum fuhren Sie hin?
Es gab da noch die leise Hoffnung, dass sie mich nur befragen würden. Doch dann fuhr ein Wagen vor, und man zog mir einen Sack über den Kopf. Mein Leben ist vorbei, dachte ich. Ich konnte nicht aufhören zu schluchzen.

Was passierte dann im Lager?
Ich wurde in einen Raum gezerrt, in dem ein hochrangiger Polizist saß. Du befindest dich in einem Umerziehungslager, du wirst als Ausbilderin arbeiten, sagte er. Ich musste einen Vertrag unterschreiben.

Satellitenaufnahmen des Gebäudes
Satellitenaufnahmen zeigen die Gebäudeanordnung eines Umerziehungslagers in der Provinz Xinjiang. Im linken oberen Bereich sind wahrscheinlich Fabrikanlagen zu sehen
© Digital Globe

Einen Vertrag?
Im Prinzip war es eine streng vertrauliche Liste mit Verboten. Sie war endlos. Man durfte zum Beispiel nicht mit den Gefangenen sprechen oder weinen oder irgendwelche Gefühlsregungen zeigen. Auf jeden Verstoß stand die Todesstrafe. Vor Angst konnte ich kaum atmen, meine Hand zitterte so stark, dass ich kaum unterschreiben konnte.

Wie sah Ihre Zelle aus?
Sie war etwa sechs Quadratmeter groß. Auf dem Betonboden lag eine Plastikplane als Matratze, und es gab ein Loch im Boden als Toilette. Außerdem gab es ein kleines Waschbecken, aus dem aber kaum Wasser kam, und eine Kamera in der Ecke. Das grelle Deckenlicht war immer an. Immer. Ich muss aber sagen, dass meine Zelle im Vergleich zu den anderen luxuriös war.

Wann sahen Sie die Gefangenen zum ersten Mal?
Am nächsten Morgen. Um sechs Uhr gingen die Zellentüren auf, und der Gestank aus Fäkalien und Schweiß, der sich ausbreitete, war unbeschreiblich. Ich sah, dass in jeder der 16-Quadratmeter-Zellen knapp 20 Gefangene lebten. Es gab nur einen Eimer als Toilette.

Wie sahen die Menschen aus?
Ich sah Männer und Frauen, Alte und Kinder, alle abgemagert, alle mit leeren Augen. Man hatte ihnen die Haare abrasiert, sodass sie aussahen wie eine Armee aus Geistern. Später fand ich heraus, dass im Lager knapp 2500 Gefangene lebten.

Wie liefen die Tage dann ab?
Der Unterricht, den ich geben musste, begann um sieben Uhr. Dort musste ich über Politik sprechen. Die Größe der kommunistischen Partei und ihre Errungenschaften. Außerdem ging es um chinesisches Leben, Bräuche, Traditionen. Der Unterricht wurde von Soldaten überwacht, und jeden Tag wurden mehrere Tests durchgeführt, die von Chinesen mit Punkten bewertet wurden. Es mussten Lieder für die Partei gesungen und die eigenen Verbrechen gestanden werden. Bis abends um 24 Uhr. Nie hatte man Ruhe.

Wie viele Menschen waren in einer "Klasse"?
Eine Klasse bestand aus 50 bis 60 Menschen. Sie mussten mit ihren Fußfesseln auf winzigen Plastikkinderstühlen vor mir sitzen. Zur Demütigung. Jeder musste still sitzen und den Kopf geradeaus halten, selbst wenn die Gefangenen schlimme Verletzungen von der Folter hatten und bluteten. In meiner ersten Stunde sah ich eine Frau, die eine offene Wunde am Kopf hatte, die stark nässte. Doch sie durfte nicht mal stöhnen, sonst hätten die Wachen sie weggezogen und bestraft.

Was sollten die Gefangenen lernen?
Alles basierte auf einem Punktesystem. Punkte bekam man, wenn man Aufgaben richtig beantwortete. Wer zu wenig Punkte hatte, wurde bestraft und gefoltert. Offiziell hieß es, dass man bei einer Punktzahl von über 90 entlassen würde. Doch während meiner gesamten Zeit ist niemand aus dem Lager freigekommen.

Zwang man Sie, neben dem Unterricht noch weitere Dinge zu tun?
Neben nächtlichen Wachdiensten und Putzen war ich oft auf der Krankenstation, wo ich Akten zu sortieren hatte. Dort bekam ich mit, dass die Akten von jungen, gesunden Insassen mit einem X gekennzeichnet waren und dass die Gefangenen danach verschwanden.

Warum?
Ich nehme an, dass es bei diesen Insassen um ihre gesunden Organe ging. Das jedenfalls glauben verschiedene Menschenrechtsorganisationen, die sich mit den Lagern beschäftigen. Der Organhandel in der Region Xinjiang ist ein gewaltiges Geschäft.

In Ihrem Buch "Die Kronzeugin" sprechen Sie außerdem von Impfungen, die an den Gefangenen durchgeführt wurden.
Ja. Die Gefangenen bekamen regelmäßig Tabletten und Spritzen verabreicht. Manche Medikamente sollten die Menschen wahrscheinlich unfruchtbar machen. Frauen bekamen danach ihre Periode nicht mehr. Viele waren danach wie sediert und wirkten apathisch.

Haben Sie in Ihrer Zeit im Lager auch gezielte Tötungen beobachtet?
Nein. Dennoch war jedem klar, dass Tötungen stattfanden. Ich sah viele Fälle, wo Menschen schwer verletzt waren und aus dem schwarzen Raum nicht mehr zurückkehrten.

Dem "schwarzen Raum"?
Ja. Der Raum lag neben dem Treppenhaus. Die Schreie, die fast jeden Tag herausdrangen, konnte man im Gang hören. Es waren nicht nur Schreie. Es waren Geräusche der Dunkelheit. Wie von sterbenden Tieren. Nichts klang schrecklicher als das. Es war der einzige Raum, in dem es keine Kameras gab.

Wer wurde dorthin gebracht?
Jeder, der auch nur den winzigsten Fehler machte. Einmal saß ein Mädchen im Unterricht, das von Wachmännern die ganze Nacht vergewaltigt worden war. Das kam bei den hübschen Mädchen oft vor. Als man sie in den Unterrichtsraum brachte, stand sie völlig neben sich und blutete. Sie hatte einfach keine Kraft mehr sich hinzusetzen. Dafür wurde sie in den schwarzen Raum gebracht.

Sind Sie selbst auch dort bestraft worden?
Ja. Eines Abends, ich hatte meinen Wachdienst, kam eine neue Gruppe Gefangener an. Es war Januar und eisig kalt. Unter den Gefangenen war eine alte Schafhirtin, 84 Jahre alt. Sie war verängstigt und hatte nur Strümpfe an. Als sie mich sah, kam sie auf mich zugelaufen und umarmte mich, weil sie erkannte, dass ich Kasachin bin. Sie flehte mich an, ihr zu helfen.

Was passierte dann?
Wir wurden bestraft. Ich wurde sofort von Wachleuten in den schwarzen Raum gezerrt. Er war knapp 20 Quadratmeter groß, in der Mitte stand ein großer Tisch mit vielen Folterinstrumenten: Metallstangen, Elektroschocker, ein Stuhl mit Nägeln. Hätte man mir vorher davon erzählt, ich hätte es nicht geglaubt. Sie schnallten mich auf einen elektrischen Stuhl und quälten mich, bis ich bewusstlos wurde.

Wie fanden Sie die Stärke, am nächsten Tag aufzustehen und mit dem Unterricht weiterzumachen?
Ich wusste, dass die Folter weitergehen würde, wenn ich nicht aufstand. Ich stellte mir vor, wie ich mit meinen Kindern in Kasachstan spazieren gehe. Von diesem Gedanken war ich wie besessen. Trotzdem konnte ich kaum stehen.

Was passierte mit der alten Frau?
Auch sie wurde hart bestraft. Man hat ihr die Fingernägel herausgerissen. Sie sollte als Spionin mit einem Handy ins Ausland telefoniert haben. Dabei war klar, dass diese Frau noch nie ein Handy besessen hatte.

In Ihrer Zeit im Lager lernten Sie aber nicht nur viel über die Grausamkeit der Täter, sondern auch über deren Weltsicht.
Ja, für den Unterricht erhielt ich als Lehrerin zum Beispiel eine Liste der Partei, auf der die gefährlichsten Feinde Chinas aufgeführt waren. Darauf stand, neben den USA und Japan, auch Deutschland. Auf Platz drei oder vier.

Auf Platz drei oder vier?
Es hieß, dass Deutschland versuche, die Entwicklung Chinas zu sabotieren und Lügen über die kommunistische Partei zu verbreiten. Dass es China spalten wolle. Im Unterricht mussten wir den Gefangenen beibringen, dass die Demokratien im Westen zerfallen. Es ging darum, den Gefangenen im Lager klarzumachen: China ist die einzige Macht. Ihr müsst euch unterwerfen!

In diesem Jahr erhielt Sauytbay den „Internationalen Preis für couragierte Frauen“
In diesem Jahr erhielt Sauytbay den „Internationalen Preis für couragierte Frauen“ des amerikanischen Außenministeriums im Beisein von First Lady Melania Trump und Außenminister Mike Pompeo
© mauritius images/2020 Images/Alamy

Wurde den Gefangenen mitgeteilt, was China mit dieser Macht in Zukunft vorhat?
Zumindest indirekt. Unter der Aufsicht von Offizieren bekamen wir Dokumente überreicht, die wir in kurzer Zeit studieren sollten. Danach mussten sie verbrannt und ein Video davon als Bestätigung der Zerstörung verschickt werden.

Was stand in den Dokumente?
Es ging um Pekings Machtpläne. Am meisten schockierte mich dabei ein Dreistufenplan, der klar formulierte, wie China seinen Einfluss in der Welt in den nächsten Jahren ausbauen will.

Was besagte er?
Es hieß, dass es in der ersten Stufe zwischen 2014 bis 2025 um die Assimilation der Minderheiten in Xinjiang gehe. In Stufe zwei sollte bis 2035 die Besetzung der Nachbarländer wie Kasachstan, Usbekistan und Kirgistan vorangetrieben werden. In Stufe drei, so stand es im Papier, plane China die Besetzung Europas. Als ich das Papier unter Aufsicht des Offiziers gelesen hatte, konnte ich es kaum glauben.

Aber warum zeigte man Ihnen diese Pläne überhaupt?
Wir als Lehrer sollten den Menschen in den Lagern das chinesische Projekt vermitteln. Sie sollten als ideologische Soldaten rekrutiert werden, damit sie China auf dem Weg zur alleinigen Weltmacht unterstützen. Mit allen Mitteln. 

Glauben Sie, dass China wirklich die Besetzung Europas plant?
Ich weiß, dass viele Menschen im Westen das nicht glauben wollen. Natürlich erscheint die Vorstellung ungeheuerlich. Aber es gibt auch andere kasachische Überlebende, die unabhängig von mir von dem gleichen Dreistufenplan berichten. Offenbar sind die Lehrpläne in den Lagern in dieser Hinsicht einheitlich.

Was macht Sie so sicher, dass diese Dokumente tatsächlich aus der Parteizentrale stammten?
Alle Dokumente, die mir gezeigt wurden, waren in Umschlägen verpackt, die mit blauen Stempeln versehen waren. Darauf war aufgeführt: klassifizierte Dokumente aus Peking. Untertitel: "Zentrales vertrauliches Dokument". Ich bin mir sehr sicher, dass sie direkt aus Peking stammten.

Warum wurden Sie trotz Ihres Wissens nach einigen Monaten entlassen?
Ich konnte es zunächst selbst nicht glauben. Im März 2018 sagte mir einer der Offiziere, dass mein Auftrag beendet sei. Ich sollte meinen Beruf als Direktorin der Kindergärten wiederaufnehmen und sagen, dass ich auf einer Umschulungsmaßnahme im Inland gewesen sei.

Glaubten Sie, dass Sie nun in Sicherheit waren?
Nein. Als ich zu Hause war, presste ich die Kleider meiner Kinder an mein Gesicht und konnte nicht aufhören zu weinen. Ich wusste, dass ich nun in größerer Gefahr war als je zuvor. Als mich zwei Tage später ein Polizist anhielt und drohte, er werde mich als Gefangene ins Lager stecken, entschied ich: lieber auf der Flucht sterben als im Lager.

Sayragul Sauytbay
In ihrer Wohnung in Schweden schaut Sauytbay durch alte Fotos. Sie konnte nur wenig in ihr neues Leben mitnehmen
© Johan Bävman

Es gelang Ihnen eine dramatische Flucht nach Kasachstan. Wo sahen Sie dann Ihre Familie wieder?
In einem Dorf in der Nähe der Grenze. Als ich sie sah, konnte ich nicht mehr. Ich weinte. Lachte. Weinte. In dieser Nacht saßen wir vier eng umschlungen und haben gesprochen, bis es hell wurde.

Doch schon einen Monat später wurden Sie wieder auseinandergerissen. Der kasachische Geheimdienst nahm Sie fest.
Ja, es zeigte sich, wie gewaltig der chinesische Einfluss in Kasachstan ist. Vor allem durch das gemeinsame Projekt der neuen Seidenstraße. Gott sei Dank sorgten mein Mann Wali und die Organisation Atajurt dafür, dass über meinen Fall in Kasachstan groß in den Medien berichtet wurde. Das verhinderte, dass sie mich einfach zurück nach China in den Tod schicken konnten.

Sauytbay vor Gericht in Kasachstan
Nach ihrer Flucht aus China wurde Sauytbay 2018 in Kasachstan vor Gericht gestellt – wegen illegalen Grenzübertritts. Ihr drohte die Abschiebung nach China. Die Medienkampagne ihres Mannes rettete sie
© AFP/Getty Images

Nachdem Ihr Asylantrag in Kasachstan abgelehnt wurde, nahm Schweden Sie 2019 auf. Hat der chinesische Geheimdienst Sie mittlerweile aufgegeben?
Nein. Noch immer bekommen wir regelmäßig Drohanrufe. Immer von chinesischen Nummern. Die Anrufer wollen verhindern, dass ich mit Journalisten spreche, und drohen, dass meinen Kindern etwas passiert.

Fürchten Sie um Ihre Sicherheit?
Wir hoffen, dass uns hier in Schweden nichts geschehen wird. Die Anrufe jedenfalls motivieren mich weiterzumachen. Sie zeigen mir, gegen was für Menschen wir kämpfen.

Welches Gefühl löst es in Ihnen aus, dass zum Beispiel der deutsche Konzern Volkswagen große Werke unweit der Lager betreibt?
Die großen Unternehmen unterstützen die Verbrechen, indem sie indirekt die Infrastruktur für die Unterdrückung liefern. Das Kapital und das Schweigen.

Herbert Diess, der VW-Konzernchef, behauptete einst, nichts über die Situation in den Lagern zu wissen. Was antworten Sie ihm?
Ich würde Herrn Diess gern einladen und ihn fragen, ob es ihn als Deutschen nicht berührt, was in meiner Heimat mit den Menschen passiert. Gerade vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges. Es sollte wichtigere Dinge als wirtschaftliche Interessen geben.

Finden Sie, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine besondere Rolle zukommt?
In jedem Fall liegt es nahe, die chinesischen Lager mit den Konzentrationslagern der Nazis zu vergleichen. Wir stürzen gerade in die gleichen Abgründe. So gibt es übereinstimmende Berichte mehrerer Zeugen über unterirdische Gefängnisse, in denen Tausende Gefangene mit den Armen in Ketten an Balken gehängt und bis zum Mund im Wasser versenkt wurden. Sie werden dort nur zum Essen herausgeholt, im Wasser schwimmen ihre Fäkalien. Wenn sie sich bewegen, drohen sie zu ertrinken. Ich weiß nicht, wie das ein Mensch aushalten kann!

Skizze der unterirdischen Gefängnisse
Diese Skizze ­zeichnete Sauytbay nach Zeugenaussagen zu unterirdischen Gefängnissen, in denen Insassen in hängender Haltung in verschmutzten Wassertanks ausharren müssen. Oft wochenlang
© Europa Verlag

Was muss die internationale Gemeinschaft aus Ihrer Sicht tun, um das Leid in den Lagern zu beenden?
Ich bin nicht naiv. Natürlich weiß ich, dass es keine militärische Lösung geben kann. Das wäre zu gefährlich. Aber man muss den Druck auf Peking merklich erhöhen. Der chinesische Präsident und die KP China müssen spüren, dass sie sonst mit ihrer faschistischen Politik einsam in der Welt dastehen.

China ist Deutschlands größter Handelspartner. Glauben Sie wirklich, dass so etwas geschieht?
Hoffnung habe ich, aber natürlich ist die ambivalente Position der deutschen Regierung ein Problem. Ihr Fokus auf ökonomische Interessen macht blind für die Katastrophe, die sich abspielt. Aber auch viele andere entwickelte Länder schauen weg. Es ist ein Symptom der Invasion, die schon jetzt durch China stattfindet. Mit unserem Buch will ich die Welt warnen!

Das Buch

„Die Kronzeugin“

Das Buch von Sayragul Sauytbay erscheint am 22. Juni in Deutschland, Europa Verlag, 352 Seiten, 22 Euro

Stiftung stern

Wenn Sie helfen wollen: Mit Ihrer Spende unterstützt der stern Organisationen, die sich um betroffene Familien in Kasachstan kümmern. Bitte spenden Sie an:

IBAN DE90200700000469950001

BIC DEUTDEHH

Stichwort „Lageropfer China“;

www.stiftungstern.de

Erschienen in stern 26/2020

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