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EuGH-Urteil Droht ein Zeiterfassungsregime? So bewertet ein Experte die künftige Arbeitszeit-Regelung

Das neue Urteil zur Dokumentationspflicht der kompletten Arbeitszeit ist aus Gewerkschaftssicht ein großer Fortschritt
Wie viel Zeit sie bei der Arbeit verbracht haben, werden in Zukunft alle europäischen Angestellten wissen
© EB-Stock / Picture Alliance
Gewerkschaften jubeln über das Arbeitszeiten-Urteil des EuGH. Skeptiker fragen sich aber, ob womöglich ein Zeiterfassungsregime droht, in dem jede kleine Pause berechnet wird. Arbeitsrechtler Hermann Reichold weiß Antworten. 

Mit einem wegweisenden Urteil hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die EU-Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert, die Unternehmen zur vollständigen Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Beschäftigen zu verpflichten. Die Gewerkschaften jubeln über die Entscheidung. Doch Kritiker des Urteils trauen der Sache nicht und fürchten negative Konsequenzen. Wird die Erfassung der Arbeitszeit den Arbeitgebern neue Mechanismen zur Ausbeutung ihrer Mitarbeiter in die Hand legen? 

Im Gespräch mit dem stern gibt Prof. Dr. Hermann Reichold, Rechtswissenschaftler und Professor für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der Eberhard Karls Universität Tübingen, Entwarnung. Er sieht die Arbeitnehmer als Profiteure des Urteils. 

Prof. Dr. Hermann Reichold

Professor für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der Universität Tübingen. 2008 bis 2010 hatte er das Amt des Dekans der dortigen Juristischen Fakultät inne. Neben seiner fachlichen Tätigkeit als Professor ist er seit 2010 überdies Vorsitzender des Vorstandes der Juristischen Gesellschaft Tübingen e.V. Außerdem war er von 2007 bis 2012 Richter am Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg.

Herr Reichold, was bedeutet das Urteil des Europäischen Gerichtshofs?

Eine Arbeitszeitrichtlinie gibt es in der EU ja schon lange. Sie enthält Regelungen bezüglich Ruhezeiten, Urlaubsansprüchen und wöchentlicher Höchstarbeitszeiten. Diese Richtlinie entfaltet aber durch das Urteil des EuGH jetzt eine Sprengwirkung. Denn nun wird die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie verordnet. In erster Konsequenz bedeutet das, dass alle Unternehmen erstmal überhaupt ein System zu Erfassung der Arbeitszeit werden einführen müssen.

Wie verbreitet ist denn die Arbeitszeiterfassung momentan?

In Anstalten des öffentlichen Rechts besteht bereits die Pflicht zur Erfassung. In großen Unternehmen ist die Erfassung auch weit verbreitet. Doch für kleinere Betriebe wird es eine technische Herausforderung sein, solche Systeme einzuführen. Der EuGH lässt aber den Mitgliedstaaten Spielräume dafür, welche Zeiterfassungsmethoden sie den Arbeitgebern vorgeben. Sie muss nur objektiv nachvollziehbar und verlässlich sein.

Werden die Arbeitnehmer von der Regelung profitieren?

Definitiv. Der Arbeitnehmer läuft heute häufig Gefahr, Überstunden zu machen und keiner merkt es. Das muss man so offen und ehrlich sagen. Beziehungsweise: Der Arbeitnehmer merkt es, aber bekommt es nicht bezahlt. Und seien es auch nur 15 Minuten am Tag, aber über die Woche summiert es sich und am Ende haben Sie fünf Stunden mehr gearbeitet, aber keinen Cent dafür bekommen. 

Die Überstunden müssen auch nicht meiner Meinung nach immer ausgezahlt, aber unbedingt abgegolten werden. In Form von Zeitausgleich zum Beispiel. Aber solche Mechanismen bekommt man nur durchgesetzt, wenn es irgendwelche Aufzeichnungen der Arbeitszeit gibt. Die Erfassung der Arbeitszeit schützt also den Arbeitnehmer. 

Gibt es Branchen, in denen die Beschäftigten besonders vor der Regelung profitieren werden?

Ja, vor allem in der Dienstleistungsbranche und in der Gastronomie. Auch Mitarbeiter von Freiberuflern, etwa Zahnarzthelfer, werden enorm profitieren. Momentan herrscht hier eine arbeitsrechtliche Wüste. Aber auch Bäcker oder Paketboten. Vor allem Beschäftigte in dem unteren Lohnsektor müssen Überstunden machen, die dann nicht einmal bezahlt werden.

Einige befürchten, dass so mancher Arbeitgeber, die Erfassung der Arbeitszeit bis ins Extreme treiben und jede Raucher- oder Kaffeepause von der Arbeitszeit abziehen könnte. 

Wenn der Arbeitgeber es auf die Spitze treiben will, könnte er es wohl machen. Aber jeder Arbeitgeber wird sich fragen, was nicht nur rational, sondern auch umsetzbar ist. Und das wäre es nicht. Das halte ich also für unwahrscheinlich.

Und schließlich gestehen die Arbeitgeber ihren Mitarbeitern auch jetzt Raucherpausen ein, stellen entsprechende Bereiche zur Verfügung, geben also ihr Einverständnis.

Kritiker meinen auch, dass die Regelung zu einer Arbeitsverdichtung führen könnte. Die Arbeitgeber könnten also mehr Arbeitsleistung in kürzerer Zeit verlangen, um Überstunden zu vermeiden.

Die Arbeitsverdichtung ist bereits ein bestehendes Problem. Das geht nicht mit der Erfassung der Arbeitszeit einher. 

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