Nach dem Willen des Europäischen Gerichtshofs gehören nicht erfasste Überstunden bald der Vergangenheit an. Zum Schutz des Arbeitnehmers wird europaweit von Unternehmen verlangt, ein System zur Erfassung der täglichen effektiv geleisteten Arbeitszeit zu schaffen. Während in großen Konzernen solche Systeme verbreitet sind, wäre es für mittlere und kleinere Betriebe viel zu aufwendig und teuer, monieren Arbeitgebervertreter. Außerdem würde hier "das Rad in einer Art und Weise zurückgedreht, wie wir uns das gar nicht vorstellen konnten", sagte etwa Peer-Michael Dick, Hauptgeschäftsführer der Organisation Arbeitgeber Baden-Württemberg. Die Stechuhr würde der Flexibilität und Autonomie des Arbeitnehmers ein Ende setzen.
Doch stimmt das wirklich? Die modernen Möglichkeiten der Zeiterfassung strafen die Kritiker Lügen. Die Erfassung der Zeit kann elektronisch, per Fingerabdruck, mobil, über das Web, mittels einer Software oder ganz altmodisch auf Papier erfolgen.
Insbesondere durch mobile Anwendungen oder Cloud-basierte Dienste wird die Erfassung der Arbeitszeit mit wenigen Klicks möglich. Sie erlauben es, jedes Internet-fähige Gerät als elektronisches Zeiterfassungsterminal zu nutzen. Die Anschaffung neuer Hardware erübrigt sich somit in den meisten Fällen. Der Arbeitnehmer kann seine Arbeitszeit von unterwegs via Smartphone oder am PC im Büro registrieren.
Apps statt Stechuhr
Auf dem Markt gibt es bereits viele Anbieter solcher Lösungen. Unter anderem bietet auch das Bundesministerium für Arbeit eine kostenlose Anwendung an. Die BMAS-App kann im Google Play Store oder im Apple App Store heruntergeladen werden und ist sofort einsatzbereit. Die Funktionsweise ist ganz einfach: Der Mitarbeiter lädt die App auf sein Handy. Die Pausenzeiten können durch Betätigung des Pausen-Knopfes manuell erfasst werden. Geschieht dies bis zum Ende des Arbeitstages nicht, kann die gesetzlich vorgeschriebene Pausenzeit automatisch abgezogen werden. Die Speicherung der erfassten Daten erfolgt lokal in der App. Eine Übermittlung der erfassten Arbeitszeiten erfolgt unverschlüsselt an eine Mailadresse des Arbeitgebers, bei der die Daten zusammenlaufen.
Synchronisierte Erfassung
Andere Anwendungen sind bereits weiter. Die App Timr arbeitet zum Beispiel völlig synchron. Wenn etwa ein Mitarbeiter im Außendienst Daten eingibt, sind diese unmittelbar auf der Webanwendung der App sichtbar. Der Arbeitgeber hat jederzeit Einblick in die eingegebenen Daten. Das spart Zeit und in vielen Fällen auch Geld. Außerdem besteht die Möglichkeit, beim Starten und Stoppen der App den Standort zu erfassen. Somit kann der Arbeitnehmer sehen, wo der Mitarbeiter sich bei der Eingabe der Daten aufgehalten hat.
Außerdem kann für jeden Mitarbeiter eine eigene Soll-Arbeitszeit definiert werden. Auch Projektzeiterfassung und ein Fahrtenbuch sind möglich.
Arbeitszeiten ohne App erfassen
Aber nicht jeder Arbeitnehmer wird eine App auf seinem privaten Telefon installieren wollen und nicht jeder Arbeitgeber wird seinen Angestellten ein Mobiltelefon zur Verfügung stellen. Hier bieten Cloud-basierte Dienste eine Lösung. Diese können vom Arbeits-PC aus bedient werden. Das System Crewmeister bietet zum Beispiel eine solche Möglichkeit an. Hier erfolgt die Erfassung durch eine virtuelle Stempeluhr. Arbeitszeiten können auch im Nachhinein erfasst werden - entweder durch die Mitarbeiter selbst oder einen Administrator. Die Pausenzeit kann auch hier automatisch abgezogen werden, ohne, dass die Beschäftigten sie eingeben müssen. Das Überstundenkonto erfasst jede zusätzliche Minute. Die Mitarbeiter werden außerdem zu Arbeitsbeginn und am Ende des Arbeitstages automatisch daran erinnert, die Arbeitszeit zu erfassen.
Beweislast liegt bald beim Arbeitgeber
Die Beispiele zeigen, dass die Erfassung der Arbeitszeit nicht mehr an eine analoge Stempeluhr gebunden ist und einer flexiblen Arbeitsweise oder Home-Office nicht im Wege steht. Und Kosten entstehen dadurch fast keine. Dem Arbeitgeber, dem es aber immer noch zu kompliziert ist, eine App oder eine Web-Anwendung anzuwenden, kann seine Mitarbeiter ihre Arbeitszeit auf dem guten, alten Papier erfassen lassen. "Der EuGH lässt den Mitgliedstaaten Spielräume dafür, welche Zeiterfassungsmethoden sie den Arbeitgebern vorgeben. Sie muss nur objektiv nachvollziehbar und verlässlich sein", stellt Prof. Dr. Hermann Reichold, Rechtswissenschaftler und Professor für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der Eberhard Karls Universität Tübingen, im Gespräch mit dem stern klar.
"Dass die Beschäftigten ihre Arbeitszeiten notieren, ist auch jetzt eine gängige Praxis. Doch momentan liegt die Beweislast beim Arbeitnehmer. Das Urteil des EuGH verlagert diese auf den Arbeitgeber. Wenn dieser also in Zukunft den Protokollierungen seiner Mitarbeiter nicht traut, muss er eine Alternative anbieten."