Bund, Länder und Kommunen müssen dieses und nächstes Jahr mit etwa 20 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen rechnen als bisher geschätzt. Sowohl 2004 als auch 2005 sei im Vergleich zur Vorjahresprognose ein Steuerminus von jeweils ungefähr zehn Milliarden Euro zu erwarten, hieß es am Donnerstag übereinstimmend aus Kreisen der Länder und des Arbeitskreises Steuerschätzung. Rund die Hälfte der Mindereinkünfte muss der Bund verkraften. Der Rest entfällt auf die Länder und in geringerem Maße auf die Kommunen.
Schuld ist auch die Konjunktur
Als entscheidende Gründe für den negativen Trend wurden in den Kreisen die anhaltend schwache Konjunktur, das teilweise Vorziehen der Steuerreform von 2005 auf 2004, geringere Einkünfte bei der Mehrwertsteuer sowie Fehlbeträge bei der Amnestie für reuige Steuersünder genannt. Einem "Handelsblatt"-Bericht zufolge belaufen sich die Steuermindereinnahmen 2005 auf wenigstens 14 Milliarden Euro.
Aus der Steueramnestie hatten sich Bund und Länder für 2004 Einnahmen von fünf Milliarden Euro erhofft. Zwar werde sie kein Flop, da sie erst Ende des Jahres volle Wirkung zeigen werde, hieß es. Doch werde der angesetzte Betrag nicht zusammenkommen. Dass die Mehrwertsteuer nicht anziehe, liege an der schwachen Binnenkonjunktur und der geringen Kauflust der Bürger. Die Schätzer kommen nächste Woche im thüringischen Gotha zusammen. Das Ergebnis verkündet der Arbeitskreis am Donnerstag.
Eichel: Angaben der Grünen "Unfug"
Die von den Grünen genannte Finanzierungslücke im Bundeshaushalt 2004 von 18 Milliarden Euro dürfte zu hoch angesetzt sein, weil wesentlich höhere Steuermindereinnahmen eingerechnet wurden als tatsächlich zu erwarten sind. Finanzminister Hans Eichel nannte den Betrag "absoluten Unfug". Wer davon ausgehe, habe keine Ahnung. Erst nach der Steuerschätzung stehe fest, welches Ausmaß das Defizit habe. Doch sei klar, dass 18 Milliarden Euro zu hoch seien. SPD-Finanzexperte Joachim Poß stimmte Eichel zu, geht aber von einem zweistelligen Milliardenbetrag aus.
Die Grünen hatten den Wert als "Super-Gau" bezeichnet, der zu einer Rekordverschuldung von fast 48 Milliarden Euro führen würde. In Koalitionskreisen ist nun von etwa 42 Milliarden Euro die Rede, veranschlagt sind bislang 29,3 Milliarden. Denn außer Steuermindereinnahmen muss der Bund schon jetzt mit fehlenden Beträgen und Haushaltsrisiken in Milliardenhöhe rechnen. Die dicksten Brocken sind Mehrausgaben zur Bewältigung der Arbeitslosigkeit, der Verzicht auf die LKW-Maut-Gebühr sowie der schwache Bundesbankgewinn, der statt der erhofften 3,5 Milliarden nur 248 Millionen Euro einbrachte.
Spitzengespräch im Kanzleramt
Für Donnerstagabend war ein Spitzengespräch zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer angesetzt. Fischer war in den Reihen der SPD, aber auch der Grünen kritisiert worden. Ihm wird intern vorgeworfen, die Debatte über den Sparkurs losgetreten zu haben, weil er Details über ein Strategiegespräch bei Schröder ausgeplaudert habe. Eichel will nach der Steuerschätzung erklären, wie er die Lage in den Griff bekommen will. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement kündigte an: "Wir werden auf die Steuerschätzung angemessen reagieren." Ein neues Sparpaket sei damit nicht gemeint, sagte ein Sprecher Clements.
In der Bundesregierung ist angeblich ein Grundsatzstreit über mögliche Auswege aus der Haushalts- und Konjunkturkrise ausgebrochen. Ein von Finanzminister Hans Eichel vorgeschlagenes Radikalprogramm mit höherer Mehrwertsteuer, Abgabensenkungen und längerer Jahresarbeitszeit hätten Bundeskanzler Gerhard Schröder und SPD-Chef Franz Müntefering abgelehnt, schreibt die "Financial Times Deutschland" (FTD) in ihrer Freitagsausgabe unter Berufung auf Regierungskreise. Von der Bundesregierung war dazu bis zum Donnerstagabend keine Stellungnahme zu erhalten. Im Finanzministerium hatte es zuvor geheißen, schon eine Debatte über eine Mehrwertsteuererhöhung sei schädlich für die sich abzeichnende Konjunkturerholung.
Schröder lehnt Radikalprogramm ab
Eichel soll laut "FTD" vorgeschlagen haben, die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 bis 21 Prozent anzuheben. Mit Mehreinnahmen bis zu 45 Milliarden Euro könnten der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung deutlich gesenkt und die Lohnnebenkosten von gut 42 Prozent unter 40 Prozent gedrückt werden. Zudem sollen Etatlöcher bei Bund und Ländern geschlossen und die EU-Stabilitätskriterien erfüllt werden, hieß es. Mit der Streichung eines Feier- oder Urlaubstags solle das Wirtschaftswachstum etwas angekurbelt werden. Der Kanzler will sich laut der Zeitung nicht in Abhängigkeit von der Union begeben. CDU/CSU könnten eine Mehrwertsteuererhöhung im Bundesrat verhindern. Die CDU wolle sich allen Dementis zum Trotz bei einem Wahlsieg eine Anhebung der Mehrwertsteuer offen halten. Ihr fehlen für ihre Steuer- und Sozialreformen mindestens 50 Milliarden Euro.
Unions-Fraktionsvize Friedrich Merz wies Eichels angebliche Pläne zurück: "Eine Mehrwertsteuererhöhung zum Stopfen der Haushaltslöcher kommt nicht in Frage", sagte er. Zur Lösung der Probleme falle Rot-Grün offenkundig nur eine Steuererhöhung ein.