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Wohnungsnot Arbeiten wie die Verrückten – darum konnte sich früher jeder ein Eigenheim leisten

Zweimal Freizeitgestaltung - in den 1960ern und heute
Zweimal Freizeitgestaltung - in den 1960ern und heute
Früher war es leichter, ein Eigenheim zu erwerben, das hört man immer  wieder. stern-Redakteur Gernot Kramper erinnert sich an die Beton-Ära der 1970er und sagt: Nein, der Grund für den Häuserboom damals liegt woanders.

Die jungen Kollegen im Büro stöhnen gern und ausgiebig über die hohen Mieten und die Unmöglichkeit, eine Wohnung oder ein Haus zu kaufen. Dabei nippen sie am Champagner und berichten über ihre letzte Fernreise. Früher sei das alles viel einfacher gewesen, ist die vorherrschende Meinung. In den 60ern und den 70ern habe man sich mit einem ganz normalen Einkommen, ein Auto, Reisen und ein Haus leisten können. Und das meistens mit nur einem Einkommen in der Familie, denn die Frauen gingen ja nicht arbeiten.

Woran liegt es, dass das nicht mehr möglich ist? An den niedrigen Löhnen? Der Globalisierung?

Daran, dass wir alle den Spitzensteuersatz zahlen müssen? Wenn man, wie ich, diese Zeit miterlebt hat, weiß man, dass diese Theorien nicht ganz falsch sind, aber dass es auch in der Wirtschaftswunder-Ära keinen Zauberstab gab, der jedermann zu einem Haus verhalf.

Arbeiten, wie die Verrückten

Die bittere Wahrheit ist: Die Leute damals haben gearbeitet wie die Verrückten. Denke ich an meinen Vater, habe ich ihn eigentlich nur mit Blaumann erlebt. Papa ist Tischler. Er hat in einem schönen Betrieb gearbeitet, der auf Restaurationen und Einzelanfertigung für wohlhabende Kunden spezialisiert war. Die Besonderheit: Der Chef verlangte seinen Leuten einiges ab, dafür konnte jeder nach Feierabend den gesamten Maschinenpark für eigenen Projekte benutzen.

Meine Papa-Sohn "Quality-Time" sah dann so aus, dass wir Kinder ihn am Wochenende in die Firma begleiteten und dort zwischen den Maschinen spielten. Mein Vater war nicht der einzige. Samstag und Sonntag wurde an vielen Plätzen geschafft. Entweder Überstunden oder eben eigene Projekte. Mein Vater war nicht ein einziges Wochenende zu Hause. Samstag wie Sonntag wurden je sechs Stunden geackert. Der eine oder andere Abend in der Woche kam noch hinzu.

Nicht zur Freude meiner Mutter, die sich wohl eine andere Freizeitgestaltung gewünscht hätte.

Leben, um zu arbeiten

Und er war nicht der Einzige. Sein Schulfreund "Onkel" Claus konnte überhaupt nicht stillsitzen. Claus konnte nicht leben, ohne dass der Zementmischer lief. Im Laufe der Zeit muss er fünf oder sechs Häuser gebaut haben. Als alter Mann, als er sich - kaputt gearbeitet wie er war – kaum noch rühren konnte, fing er an, unter dem Keller tiefe Gewölbe auszuheben.

"Onkel" Arthur, Erwin, Ingo – erinnere ich alle nur von irgendwelchen Baustellen. Das Projekt Eigenheim war allgegenwärtig. Großvater mütterlicherseits war vom gleichen Schlag. Als pensionierter Beamter fühlte er sich nicht ausgelastet, also mauerte der Kriegsversehrte mit einer Handvoll Splittern im Leib einen doppelgeschossigen Bungalow in der Nähe von Hamburg. Im Wesentlichen allein mit der Großmutter.

Typischer Sonntag mit der Familie.
Typischer Sonntag mit der Familie.
© Gernot Kramper / stern.de

Mein Vater kommt "nur" auf zwei Häuser. Ein um- und ausgebautes und einen Neubau. Für die damalige Zeit überraschend: Papa hat mit viel Stil gebaut. Das kann man nicht von jedem Projekt sagen. Der Gelbklinker war damals in Mode und viel Arbeit wurde in absurde Dinge gesteckt. Ein eigenes Schwimmbad im Keller (!) stand damals auch hoch im Kurs.

Da Papas Traumhaus nicht um die Ecke lag, wurde die ganze Familie am Freitagnachmittag in einen brüllenden VW-Transporter geladen. Dann ging es auf die Baustelle. Geschlafen wurde in einer Laube, gekocht auf dem Campinggrill. Sonntagabend ging es zurück.

Modell funktioniert auch heute noch

Wer würde heute so etwas durchziehen? Auch wenn man kein Handwerker ist, könnte man ja am Wochenende noch einen Job finden oder Überstunden machen und das Geld für das Projekt "Eigenheim" beiseitelegen. Denn damals wurde eisern gespart. Bei manchen vielleicht auch gegeizt. Irgendwelche Sonderzahlungen – mein Vater war häufig auf Montage – wurden jedenfalls nicht in schicke Restaurants oder fancy Reisen investiert. Das kam alles in die Spardose.

Projekt "Eigenheim" besaß einen hohen Wert. Und heute gibt es das auch noch, allerdings stimmt der Mindset nicht im Kreis der schicken City-Hipster, die ohne Avocado-Mus nicht leben können.

Auf dem Land sieht das anders aus. Da kam Cousin Addie trotz Nebenjob nicht mit dem Leben als Rentner zurecht. Also wurde vor etwa drei Jahren mal wieder gebaut. Für den Sohn und dessen Freundin. Rausgekommen ist ein großzügiges Haus am Hang, mit einer großen Wohnung und einer kleineren, um sie zu vermieten. Als Baukosten kamen etwa 160.000 Euro zusammen. Cousin Addie hat allerdings 20 Kilogramm beim Bau verloren.

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