Havarie der "Napoli" Plündern wie im Mittelalter

Die Bibeln blieben am Strand von Devon liegen, aber sonst nahmen die Menschen alles mit, was sie vom Frachtgut der "Napoli" fanden. stern.de sprach mit dem Seerechtler Rainer Lagoni über die Selbstbedienungs-Orgie.

Gelegenheit macht Diebe; nirgendwo lässt sich der Realitätsgehalt dieser alten Volksweisheit derzeit besser beobachten als an der Küste der südenglischen Grafschaft Devon. Was hat der havarierte Frachter "Napoli" nicht alles preisgegeben: Weine, Parfums, Kosmetika, BMW-Motorräder, Schuhe, Werkzeuge, selbst eine Mercedes-Karosse wurde an den Strand geschwemmt. Die Küstenbewohner griffen begierig zu - vor laufenden Kameras und unter den Augen der (noch) untätigen Polizei. Einige Plünderer gaben sogar TV-Interviews und erzählten haarklein, wie mühselig es gewesen sei, das nagelneue Motorrad in den heimischen Garten zu schleifen. "Es war wie ein Rausch", freute sich eine ältere Frau vor Reportern.

Dieser Rausch hat an der Küste eine gewisse, mitunter auch üble Tradition. "Seit dem Mittelalter hatten Strandbewohner das Recht, sich Strandgut anzueignen. Aber es gab auch immer Streit mit jeweiligen Fürsten, die ebenfalls Anspruch auf das Strandgut erhoben", sagt der Seerechtler Rainer Lagoni von der Universität Hamburg. Das legale Schnäppchen-Sammeln am Meer war damals allerdings nur eine Variante der Selbstbereicherung. Skrupellose Zeitgenossen steckten falsche Leuchtfeuer an, lockten damit Schiffe in untiefe Gewässer und erschlugen die Besatzung. Damit war die Fracht in ihren Augen "herrenlos" - und wanderte schnurstracks in die Schatztruhen der Plünderer.

"Dies und das als Erster gesehen"

Auf derlei Traditionen können sich die englischen "Napoli"-Verwerter allerdings nicht berufen. An der Küste wie auch an Land gilt das staatliche Fundrecht, und das verlangt, aufgefundene Güter ordnungsgemäß zu melden und abzugeben. Wer dies nicht tue, riskiere eine Strafe, die von einer Ordnungswidrigkeit bis zur Haft reichen könne, sagt Lagoni. Immerhin: "Nicht nur in Deutschland sind üblicherweise zehn Prozent Finderlohn fällig." Noch mehr einheimsen können Bootsbesitzer, die einen ganzen Container auf offener See an den Haken nehmen und in einen Hafen schleppt. "In diesem Fall gilt das Berge-Recht", sagt Lagoni, "und der Bergungslohn ist höher als der Finderlohn".

Die Idee, das Frachtgut der "Napoli" sei herrenlos gewesen, weil es es auf offener See dümpelte, ist laut Lagoni nichts weiter als Selbstbetrug. Jeder einzelne Container sei markiert und nummeriert, um den Besitzer der Ware auszuweisen. "Wenn Sie sich in einer Stadt bewegen, würden Sie ja auch nicht sagen: 'Oh, ich habe dies und das als Erster gesehen, also ist es meins!'" Andererseits kennt Lagoni natürlich auch die archaischen Triebe des Menschen, die sich nicht nur in Devon austoben. "Überall, wo die Menschen meinen, es gibt schnell und billig etwas zu holen, sind sie zur Stelle." Das Rechtsbewusstsein, so scheint es, hat sich noch lange nicht in die Gene gesenkt.

Zweite Aufführung der Interviews

Um die wilde Selbstbedienungs-Orgie in Devon zu beenden, hat die Polizei den Strand inzwischen gesperrt. Lagoni rechnet damit, dass die Staatsanwaltschaft und die Polizei nun mit den Ermittlungen beginnen. Beweismaterial gibt es dank der Medienberichterstattung reichlich. Ihre TV-Interviews werden die Diebe im Gerichtssaal wohl noch mal ausführlich sehen können.