Klinikalltag in Deutschland: Obwohl der 40-jährige Arzt Urlaub hat, fährt er ins Krankenhaus, um Briefe zu schreiben und liegen gebliebene Verwaltungsarbeit zu erledigen. Zwischen Fortbildung, Stationsarbeit, Visiten, Bereitschafts- und Wochenenddiensten bleibt dem angehenden Facharzt keine Zeit. Eine Klage bei seinen vorgesetzten Chef- und Oberärzten ist wenig sinnvoll. Sie bescheinigen dem Kollegen schließlich die erforderliche Weiterbildung - ohne die gibt es keinen Facharzttitel.
In Ostdeutschland fehlen Hausärzte
Kein Wunder, dass angesichts dieser Zustände immer mehr Medizinstudenten dem Krankenhaus den Rücken kehren. Das Leid der Jungärzte beklagen neuerdings selbst die älteren Kollegen. Der Deutsche Ärztetag in Rostock warnt vor Ärztemangel und Versorgungsengpässen. »In den neuen Bundesländern fehlen bereits Hausärzte«, erklärte Bundesärztekammerchef Jörg-Dietrich Hoppe am Mittwoch. Angesichts der Nachwuchssorgen fordert die Ärzteschaft die sofortige Abschaffung des so genannten Arzt im Praktikum (AiP) und eine bessere Bezahlung junger Mediziner.
Ärzteschwemme ist vorbei
Die 18-monatige AiP-Ausbildung wurde 1986 eingeführt, als Massen von Abiturienten aus den geburtenstarken Jahrgängen an die medizinischen Fakultäten strömten. Als Reaktion auf die zu erwartende Ärzteschwemme wurden die Ausbildungszeiten verlängert. Wer heute das Facharztdiplom in den Händen hält, ist meist Ende 30. Doch die Zeiten, da sich Studienwillige einen Platz in der Humanmedizin vor Gericht erstritten, sind vorbei. Nach Schätzung der Bundesärztekammer brechen 30 bis 40 Prozent der Medizinstudenten ihr Studium ab, immer mehr Absolventen schrecken vor der langen und mühevollen Arztausbildung im Krankenhaus zurück.
Ärzteparlament: »Mehr Geld für den Nachwuchs«
Nun soll das Blatt sich schnell wenden: Das »Parlament der Ärzte« verlangte auch eine bessere Vergütung ihrer jungen Kollegen, die bislang im AiP etwa 1.000 Euro erhalten. Auch Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt forderte schnelle und unkonventionelle Maßnahmen, um den Arztberuf wieder attraktiv zu machen. »Dem deutschen Gesundheitswesen gehen die Ärzte aus«, warnte Kassenärztechef Manfred Richter-Reichhelm. »Das sind nicht nur Alarmsignale, das ist schon 'Land unter'«.
Viel Arbeit, schlechtes Gehalt
Der Schwenk kommt plötzlich: Lange Jahre haben die etablierten Doktoren von dem System der Ausbeutung ihrer jungen Kollegen durchaus profitiert. Auch die Krankenhäuser konnten sich an den billigen Arbeitskräften erfreuen. Angesichts der bestehenden Hierarchien gab es für die jungen Mediziner kaum andere Chancen, als die oft katastrophalen Arbeitsbedingungen zu akzeptieren.
Nun herrscht Verwunderung bei den Ärzten, wieso das System sich so plötzlich vom Überfluss zum Mangel wandeln konnte. Die Ärztekammer Hessen stellte in einer Umfrage fest, dass fast die Hälfte der Assistenzärzte mehr als 50 Stunden pro Woche arbeitet. Dazu kämen noch die Bereitschaftsdienste, Rufbereitschaften und Wochenendvisiten. 75 Prozent der Assistenten machen laut Umfrage wenigstens einen Bereitschaftsdienst pro Woche, der sich an die normale Arbeitszeit anschließt und den Arbeitstag oft um 14 Stunden verlängert. In Zweidrittel der Fälle werden der Umfrage nach geleistete Überstunden nicht bezahlt. Etwa 40 Prozent der Assistenzärzte würden sich nicht wieder für den Arztberuf entscheiden, stellt die Studie nüchtern fest.
Arzt als Albtraumberuf?
Hinzu kommt, dass junge Ärzte nach wie vor Probleme haben, eine eigene Praxis zu gründen. In vielen Städten gibt es weiterhin Niederlassungssperren. Es fehlen zwar in den ländlichen Gebieten Ostdeutschlands Hausärzte. Doch eine Niederlassung dort ist finanziell kaum lukrativ, da es in diesen Gebieten auch weniger Privatpatienten gibt, ohne die sich eine Arztpraxis kaum über Wasser halten kann. »Der Traumberuf Arzt darf nicht zu einem Albtraumberuf verkommen«, warnte Ärztechef Hoppe. Dazu wird mehr als eine Verkürzung der Ausbildungszeiten nötig sein.
Von Agnes Tandler, dpa