Arbeitsmarktreform Warum klagen so viele gegen Hartz IV?

Vor den Sozialgerichten werden immer mehr Hartz-Klagen eingereicht. Werner Hesse vom Paritätischen Wohlfahrtsverband macht im stern.de-Interview die Überlastung der Behörden verantwortlich und fordert eine massive Vereinfachung des Systems.

Herr Hesse, die Klageflut gegen die Hartz-IV-Gesetze hat im vergangenen Jahr massiv zugenommen. Woran liegt es?

Ganz genau kann ich das auch nicht lokalisieren. Aber was wir erleben, ist, dass das Thema Unterkunft die Leute immer noch sehr stark beschäftigt. Wann muss ich die Wohnung wechseln? Sind meine Mietkosten zu hoch? Die Behörden verhalten sich nicht einheitlich, es kommt zu vielen widersprüchlichen Entscheidungen und in der Folge wird geklagt.

Die Reform sollte zu Anfang sehr übersichtlich und verwaltungsfreundlich gestaltet werden. Letztlich ist sie jedoch, insbesondere bei der Einkommensanrechnung, immer komplizierter geworden. Das führt dazu, dass die Betroffenen zunehmend klagen, um Transparenz herzustellen.

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Drei Jahre nach dem Start der Arbeitsmarktreform Hartz IV reißt der Strom der Klagen vor den deutschen Sozialgerichten nicht ab. Sind Sie auch davon betroffen? Habe Sie vor einem Sozialgericht gegen einen Zwangsumzug geklagt? Schreiben Sie an aktion@stern.de und schildern Sie Ihre persönlichen Erfahrungen.

Greifen die Behörden mittlerweile härter durch, gerade wenn es um zu große Wohnungen geht?

Zum Teil ist das der Fall. In der ersten Zeit hatten die Behörden extrem viel mit der Umstellung und der Neuorganisation der Verwaltung zu tun, so dass sie bei der Unterkunft nicht so genau hingeschaut haben. Jetzt sieht das jedoch anders aus, die Behörden setzen die bestehenden Regelungen stärker durch und entscheiden auch öfter: Mehr Miete zahlen wir nicht.

Zur Person

Werner Hesse ist seit 1995 Geschäftsführer für Recht, Personal, Betriebswirtschaft beim Paritätischen Wohlfahrtsverband in Berlin

Die Aussichten, erfolgreich dagegen zu klagen, sind nach Angaben des Bundessozialgerichts aber nicht sehr hoch.

Der Erfolg einer Klage nimmt mit dem Gang durch die Instanzen ab. Zu Anfang sind die Aussichten auf Erfolg aber natürlich immer noch am größten. Es gibt einfach nur wenige Fälle, bis zum Bundessozialgericht durchgefochten werden. Oft werden gerade die komplizierten Fälle von den Behörden erst dann genauer bearbeitet, wenn sie vor Gericht landen. In Berufung geht die Behörde bei einer für sie negativen Entscheidung eher selten.

Die Behörde sagt erst einmal nein, ohne wirklich genau geprüft zu haben?

Das kann man mit Fug und Recht sagen. Das Motiv ist aber nicht immer, einfach nur Geld zu sparen. Das System ist einfach extrem komplex und die Mitarbeiter sind nicht ausreichend geschult. Es macht sehr viel Arbeit, einen Fall bis zu Ende zu prüfen und zu bearbeiten.

Was kann dagegen gemacht werden?

Die Rechtsgrundlagen müssen vereinfacht, viele Dinge stärker als bisher pauschalisiert werden. Es muss zum Beispiel fixe Einkommensfreibeträge geben. Es kann nicht sein, dass der Sachbearbeiter stundenlang nachrechnen muss, wie viel der Arbeitslose von dem hinzuverdienten Geld letztlich behalten darf. Die Rechenprogramme der Behörden sind schon jetzt vollkommen überlastet und pfeifen auf dem letzten Loch. Fehler sind in einer solchen Situation vorprogrammiert.

Zudem müssen die Mitarbeiter besser geschult werden, vielleicht muss auch grundsätzlich mehr Personal eingesetzt werden.

Die Menge an Klagen wird nicht so schnell abflauen?

Mit Sicherheit wird die Flut von Klagen weitergehen. Wenn das System nicht deutlich vereinfacht wird, bleiben die Sozialgerichte ausgelastet.

Interview: Marcus Gatzke

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