Selbstständigkeit "Entscheidend ist die Risikobereitschaft"

Mit Hilfe der Psychoanalyse erforscht Stephan Grünewald die Selbstständigen
Mit Hilfe der Psychoanalyse erforscht Stephan Grünewald die Selbstständigen
© Anais Brochiero/colourbox
Rund viereinhalb Millionen Selbständige gibt es in Deutschland - und Jahr für Jahr werden es mehr. Wie denken und handeln sie im Vergleich zu den abhängig Beschäftigten? Selbständige seien in der Lage, das Scheitern auszublenden, sagt Stephan Grünewald, Geschäftsführer des Rheingold-Instituts für Kultur-, Markt- und Medienforschung im stern.de-Interview.

Herr Grünewald, sind Selbständige ein anderer Menschenschlag als abhängig Beschäftigte wie Arbeiter und Angestellte?

Ja, Selbständige - und hier spreche ich vor allem von Gründern - sind von ihrer Geschäftsidee regelrecht besessen. Die versuchen sie, bei hohem Arbeitseinsatz auch gegen Widerstände durchzusetzen. Sie sehen einen Weg, den andere noch nicht sehen. Dafür sind sie bereit, Entbehrungen hinzunehmen.

Welche Entbehrungen sind das?

Zum einen finanzielle Einbußen, denn das Geschäft wirft ja nicht sofort Gewinn ab. Hinzu kommt eine hohe zeitliche Belastung, mit einer 35- oder 40-Stunden-Woche wie bei den abhängig Beschäftigten ist es ja nicht getan. Und wer aus einer Festanstellung bei einem renommierten Unternehmen den Schritt in die Selbständigkeit wagt, nimmt auch zunächst Einbußen im Ansehen hin: Es gibt keinen schicken Dienstwagen mehr, und die Türen öffne sich nicht von selbst, sondern man muss selbst Klinken putzen.

Worin liegt der bedeutendste Unterschied zu den Lohn- und Gehaltsempfängern?

Entscheidend ist die Risikobereitschaft. Angestellte und auch viele Arbeiter haben meistens ihre Perspektive im Beruf, und das Geld kommt regelmäßig, auch wenn sie krank sind. Selbständige müssen dagegen mit dem kompletten Scheitern rechnen.

Wieso wagen sie trotz des möglichen Scheiterns den Weg?

Selbständige sind in der Lage, das Scheitern auszublenden. Sie entwickeln eine Art Tunnelblick. Der macht sie fast blind gegen mögliche Einwände. Sie haben einen festen Glauben an ihre Vision. Menschen, die an sich selbst zweifeln und ständig Ratgeber-Literatur wälzen, um sich rückzuversichern, sind für die Selbständigkeit nicht geeignet.

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Wochenarbeitszeiten zwischen 50 und 70 Stunden ist bei Selbständigen nichts Ungewöhnliches, und bei vielen sind mehr als zwei Wochen Urlaub im Jahr nicht drin, hat die stern-Recherche zum Selbständigen-Report gezeigt. Warum tun die sich das an?

Das erklärt sich aus ihrer Besessenheit, die denken nicht in Kategorien der Arbeiter und Angestellten. Sie wollen ihr Ziel erreichen, nur das zählt. Im Unternehmen fragen sich die Mitarbeiter: Bekomme ich für meine Arbeit die entsprechende Entlohnung? Wenn das nicht stimmt, gehen sie auf die Barrikaden.

Zur Person

Stephan Grünewald, geboren 1960, ist Mitbegründer des Rheingold-Instituts für Kultur-, Markt- und Medienforschung in Köln. Der Diplom-Psychologe stützt sich bei seinen Analysen auf viele tausend Tiefeninterviews, die Rheingold für Auftraggeber aus Industrie und Medien in den vergangenen zwei Jahrzehnten durchgeführt hat. Das Besondere an der Methode: Jede Befragung dauert mindestens zwei Stunden. Vergleichbar einer Sitzung beim Therapeuten, wird dabei das Alltags- und Seelenleben des jeweils Befragten durchleuchtet.

Selbständige schauen also nicht in erster Linie auf den Verdienst?

Nein, sie haben ihre Unternehmung im Auge - eine therapeutische Praxis, ein Handwerksbetrieb oder eine Werbeagentur. Sie sind von einem Bild geleitet, in dem sie Kunden, Mitarbeiter, Geschäftsräume und Geräte sehen.

Bleibt bei dieser Besessenheit nicht das Privatleben auf der Strecke?

Der Gründer differenziert sein Leben nicht in Beruf und Familie. Er lebt für seine Idee. Das ist natürlich eine Belastungsprobe für die Familie, wenn eine vorhanden ist. Sie muss damit leben, dass sie den Gründer vielleicht jahrelang nur am Wochenende sieht.

Sind die Scheidungsraten bei Grünern höher als bei abhängig Beschäftigten?

Dazu habe ich keine Zahlen. Aber bei der Befragung von Gründern habe ich immer wieder erfahren, dass die Angehörigen spüren: Es wächst etwas heran, das auch mit uns verwurzelt ist.

Bei unseren Recherchen hat sich gezeigt, dass die Selbständigen trotz der hohen Arbeitsbelastung viel zufriedener sind als abhängig Beschäftigte. Wie erklären Sie sich das?

Sie sind mit sich im Gleichgewicht, weil sie von einer Selbstgewissheit getragen sind. Das ist die Bindung ans Unternehmen: Es ist meine Firma! Nehmen Sie zum Vergleich einen leitenden Angestellten: Er hat seine Ausbildung durchlaufen und arbeitet in einem bestimmten Unternehmen, könnte aber auch in einer anderen Firma das gleiche tun. Er lebt in der Angst, austauschbar zu sein. Mit dem Unternehmen ist er nicht verwachsen. Seine Zufriedenheit resultiert allein aus dem Gehalt, der Bürogröße oder dem Modell des Dienstwagens. Das hat der Selbständige nicht nötig.

Sind Firmengründer andere Chefs als angestellte Manager?

Ja, sie leben ihr Unternehmen und zeigen eine hohe soziale Verantwortung, die sich vor allem im Umgang mit den Kunden und den Mitarbeitern zeigt. Der hoch bezahlte angestellte Manager dagegen fühlt sich oft Renditezielen verantwortlich und läuft Gefahr, sich von der Unternehmenswirklichkeit zu entfremden. Er weiß dann oft nicht, welche Probleme es in den Abteilungen gibt, seine Entscheidungen fällt er nach Effizienzkriterien. Für ihn existiert der altmodische Begriff der Liebe zum Produkt häufig nicht.

Reicht die soziale Verantwortung der Gründer über ihr Unternehmen hinaus?

Sie sind mehrfach verwurzelt: in der Mitarbeiterschaft und in der Region, die sie brauchen, um ihr Geschäft entfalten zu können. Sie sponsern den örtlichen Fußballverein oder den Kulturbetrieb. Einem Unternehmen wie Nokia dagegen ist ein Standort wie Bochum völlig egal.

Interview: Joachim Reuter

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