Arbeitszeit Überstunden durch die Hintertür?

Immer mehr Firmen schaffen die Stechuhr ab. Kritiker befürchten, dass Arbeitgeber sich damit vor der Bezahlung von Überstunden drücken wollen.

Immer mehr Firmen in Deutschland schaffen die Stechuhr ab. Vertrauen statt stempeln: Nach einigen Großkonzernen setzen nun auch zunehmend mittelständische Betriebe auf das eigenverantwortliche Kommen und Gehen ihrer Mitarbeiter in den Büros. Mit der Stempeluhr stirbt allerdings auch jedes genaue Auflisten von Überstunden. Vertrauen sei gut, meinen Kritiker, Kontrolle als Schutzmechanismus für die Beschäftigten aber allemal besser.

"Arbeit ohne Grenzen"

Was Berater, Manager und Chefs als Mittel zur Motivation preisen, halten die Gewerkschaften für Arbeiten ohne Grenzen. "Das wird oft schamlos ausgenutzt", gibt Siegfried Balduin vom IG-Metall-Vorstand in Frankfurt am Main zu bedenken. In den Tarifverträgen seien einmal kürzere Arbeitszeiten vereinbart worden, die mit der Abschaffung der Zeiterfassung wieder ausgehebelt werden könnten. Beschäftigte hätten die Möglichkeit, sich gegen die generelle Einführung von Vertrauensarbeitszeit zu wehren.

Noch keinen Protest gab es bislang beim Autozulieferer "Webasto" in Stockdorf bei München. Dort hieß es Anfang Oktober für die Angestellten: Gleitzeit ade. Die elektronische Zeiterfassung musste weichen. Gearbeitet wird jetzt nach Arbeitsanfall und Projektfortschritt. Die Firmenleitung setzt auf das Engagement ihrer Beschäftigten. "Kontrolle findet im eigentlichen Sinne nicht statt", betont Sprecher Detlef May. Das gilt allerdings auch für Mehrarbeit: Die wird jetzt nicht mehr auf die Minute genau erfasst. Wer kräftig Überstunden schiebt, muss in Eigeninitiative "Wege zum Ausgleich" mit dem Vorgesetzen aushandeln.

Arbeitszeit durch Listen erfasst

Großunternehmen wie IBM oder Siemens haben den Trend schon seit längerem aufgegriffen. Was früher nur außertariflich bezahlten Managern vorbehalten war, gilt an Verwaltungsstandorten inzwischen für alle. "Die Arbeitszeit wird über Listen geführt, das läuft gut", erklärt Siemens-Sprecherin Martina Kniep. Auch beim Versicherungsriesen Allianz beispielsweise sind Vertrauensarbeitsmodelle "ein Diskussionsthema", wie Sprecherin Viktoria Kranz sagt. Nach wie vor regiert aber die elektronische Stechuhr.

"Seit Mitte der 90er Jahre ist der Umbau in Großbetrieben schon im Gange", meint Balduin. Die Tendenz habe sich in letzter Zeit jedoch massiv verstärkt. Ansätze, die Stechuhr nicht nur in der Verwaltung sondern auch im Produktionsbereich abzuschaffen, seien bereits auszumachen.

Von Abteilung zu Abteilung anders

"Das Interesse der Betriebe, mit Hilfe der Flexibilisierung Mehrarbeits- und Schichtzuschläge einzusparen, ist einfach da", ist Arbeitsmarkt-Spezialist Balduin überzeugt. Nach seiner Ansicht wird "die Modewelle aber keine Zukunft haben, weil die Beschäftigten auf mittlere Sicht für ihre Mehrarbeit viel zu wenig Gegenleistung von ihren Chefs bekommen".

Nach Umfragen der IG Metall hängt eine Mehrzahl der Arbeitnehmer auch weiterhin an der Überprüfbarkeit ihrer Arbeitszeiten durch moderne elektronische Mittel. Schlägt die Unternehmensleitung den Wegfall der Stechuhr vor, wüssten jedoch nur organisierte Belegschaften sich zur Wehr zu setzen und Kompromisse auszuhandeln.

Aber auch alle anderen hätten eine Chance auf wirksamen Einspruch, meint Balduin. Weil das Arbeitszeitgesetz verlangt, dass die geleisteten Stunden unter anderem gesammelt und überprüft werden, verstoße die Vertrauensregelung eindeutig gegen Gesetzesauflagen. Will eine Abteilung die generelle Abschaffung der Stempeluhr nicht mittragen, hat sie rein rechtlich gesehen die Möglichkeit, unabhängig von anderen Lösungen eine völlig eigenständige Arbeitszeitregelung zu vereinbaren. "Beschäftigte sollten immer nach maßgeschneiderten Modellen in ihrer Firma suchen und fertige Pläne des Chefs kritisch sehen", rät der Gewerkschafter.

Berrit Gräber

PRODUKTE & TIPPS