Ferdinand Fichtner Spitzen-Ökonom: "Die deutsche Konjunktur wird schlecht geredet!"

Konjunkturkrise im Autormarkt? E-Autos auf dem Güterzug
Elektrofahrzeuge auf einem Güterzug am VW-Werksgelände in Zwickau. Das Werk war bisher Vorreiter der Elektromobilität bei Volkswagen. Doch nun stockt die Nachfrage nach den Stromern. Die gesamte deutsche E-Autoindustrie ist tief in die Konjunkturkrise gerutscht
© Hendrik Schmidt/ / Picture Alliance
Die Konjunktur werde im Sommer wieder anziehen, sagt Volkswirt Ferdinand Fichtner. Er hält die neue Gemeinschaftprognose der fünf führenden Wirtschaftsinstitute für plausibel. Deutschland könne auch langfristig die Kurve kriegen – wenn Berlin endlich umsteuert.

Herr Professor Fichtner, wo man hinhört, wird gemurrt und gejammert. Wie schlecht steht es wirklich um die deutsche Konjunktur?
Um die aktuelle Konjunktur steht es nicht so schlecht, wie es in der öffentlichen Diskussion erscheint. Das Gejammer ist noch stark von den schwierigen vergangenen Jahren geprägt. Wenn man die Leute fragt, warum sie schlecht drauf sind, dann eher, weil es in der jüngeren Vergangenheit nicht gut gelaufen ist, und nicht, weil sie die Zukunft pessimistisch sähen.

Wird Deutschland also schlecht geredet? Und wenn ja, von wem?
Ja, vor allem die Oppositionsparteien streuen gerade unnötig Sand ins Getriebe, weil sie hoffen, bei den nächsten Wahlen dafür belohnt zu werden. Und auch die Unternehmensverbände stellen die Situation unfreundlicher dar, als sie ist, um mehr politische Unterstützung zu bekommen, Steuerentlastungen oder Anschubfinanzierungen. Deren Jammern fällt gerade bei Oppositionspolitikern auf fruchtbaren Boden.

Professor Ferdinand Fichtner ist Volkswirt an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin. Zuvor war er Abteilungsleiter Prognose und Konjunkturpolitik beim Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und erstellte selbst Konjunkturgutachten .
© HTW Berlin/Cornelia Fieguth

Zur Person

Professor Ferdinand Fichtner ist Volkswirt an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin. Zuvor war er Abteilungsleiter Prognose und Konjunkturpolitik beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und erstellte selbst Konjunkturgutachten.

Manche Unternehmer klingen, als würden sie schon morgen am Bettelstab gehen.
Ganz genau. Und das in Zeiten, wo die Unternehmensgewinne extrem hoch sind. Man muss weit in die Geschichte zurückschauen, um ähnlich hohe Gewinne bei den großen Aktiengesellschaften zu finden. Die Aktienkurse bilden das ab: Die Finanzmarktentwicklung ist gerade grandios. Die Eigentümer der Unternehmen, die Aktionäre und Aktionärinnen, sehen die Lage also viel hoffnungsvoller als ihre Unternehmenssprecher. 

Trotzdem steht Deutschland beim Wachstum deutlich schlechter da als viele andere europäische Länder. Warum ist das so?
Weil wir viel abhängiger von Russland waren, vor allem bei der Energie. Da müssen wir uns noch immer von den gewaltigen Verwerfungen des Jahres 2022 erholen, die für Deutschland besonders gravierend ausfielen.

In diesem Jahr rechnen die fünf führenden Wirtschaftsinstitute in ihrer Gemeinschaftsdiagnose mit einem Wachstum von nur 0,1 Prozent. Erbärmlich, oder?
Das ist nicht viel, keine Frage. Mehr als eine gute Null prognostiziere auch ich nicht. Der Grund dafür ist: Wir sind mit sehr, sehr wenig Schwung in dieses Jahr gestartet, die Null resultiert aus dem äußerst schwachen Winterhalbjahr. Das heißt aber nicht, dass wir nicht trotzdem schon wieder auf einem aufsteigenden Ast sitzen können. Ich bin für den Sommer und die zweite Jahreshälfte sehr viel optimistischer.

Und für 2025? Da rechnen die Forschungsinstitute mit plus 1,4 Prozent.
Da erst recht. Wenn wir mit Schwung ins Jahr 2025 gehen, sind die Perspektiven viel besser.

Die herrschende Meinung lautet, Schuld an der Misere seien hohe Energiepreise und der Fachkräftemangel. Ist das wirklich so?
Aktuell spielen die Energie- und Lebensmittelpreise eine wichtige Rolle. Sie sind für Konsumenten so extrem gestiegen, dass sie kein Geld mehr für Sachen ausgeben, die sie sich früher gegönnt hätten. Die Sparquote ist extrem hoch. Ursache ist eine tiefgreifende Verunsicherung, die total nachvollziehbar ist. Was passiert in der Ukraine? Was in Russland, von dem wir immer noch wirtschaftlich abhängig sind? Was im Nahen Osten? Ist in den USA bald wieder Trump an der Regierung? Oder bei uns gar die AfD? All das ist nicht dazu geeignet, Zuversicht zu verbreiten.

Was bedeutet diese Stimmung perspektivisch, zum Beispiel für die lange so große Autonation Deutschland, die gerade lahmt? Werden wir durch den Umstieg auf die E-Mobilität nun endlich von den Chinesen abgehängt? 
Die aktuelle Konjunkturlage, die, wie gesagt, gar nicht so schlecht ausfällt, ist tatsächlich etwas völlig anderes als die langfristige Perspektive. Da stehen wir vor gewaltigen Problemen. Ich sehe im Moment nicht, dass wir beim Autobauen den Anschluss halten können, die deutschen Automobilhersteller haben zu viele Trends verschlafen. Das gilt auch für andere Schlüsselbranchen wie die Chemieindustrie, die Produktion und Produkte nicht der Klimakrise angemessen umgestellt hat. 

Was kann die Bundesregierung tun, um das Feuer des Wachstums langfristig zu entfachen? Sind Subventionen der richtige Weg, wie jüngst die 900 Millionen Euro für die Northvolt-Batteriefabrik in Schleswig-Holstein? 
Ja, wir müssen Schlüsselbranchen mit einer zielgerichteten Industriepolitik unterstützen, seien es Batterien, seien es Halbleiter. Auch wenn das immer mit dem Risiko verbunden ist, Geld in den Sand zu setzen. Im neuen Wachstumschancengesetz war vieles richtig angelegt, doch leider hat es den Bundesrat nur in sehr reduzierter Form passieren können. Die Ideen sind da, aber leider fehlt der Regierung der finanzielle Spielraum, auch wegen hausgemachter Fehler. Ich glaube, wir müssen deshalb dringend über ein Aussetzen der Schuldenbremse nachdenken. Wie gesagt, es geht dabei nicht darum, die Konjunktur kurzfristig anzukurbeln, sondern es geht um langfristige Perspektiven für die nächsten 50 Jahre.

So langsam scheint sich die Stimmung wieder etwas aufzuhellen. Das Ifo-Geschäftsklima, das den Gemütszustand der Unternehmer abbildet, stieg im März um 2,5 Prozent. Ähnlich wächst der Verbrauchervertrauensindex der Europäischen Kommission, also die Kauflaune. Und die Inflationsrate sinkt. Können wir aufatmen?
Für die Konjunktur des Jahres 2024 dürfen wir, glaube ich, optimistisch sein, dass wir uns aus diesem tiefen Loch, in das wir gerutscht sind, wieder herausarbeiten. Wir beschleunigen gerade stark. Wenn die Stimmung sich weiter verbessert, werden wir auch gewisse Nachholeffekte beim Konsum erleben. 2025 werden wir vermutlich die 1,5 Prozent Wachstum überschreiten, die wir für die deutsche Wirtschaft typischerweise erwarten.

Geraten wir auch langfristig wieder in stabiles Fahrwasser? 
Dafür muss die Politik aufhören, sich immer neue Steine in den Weg zu legen, anstatt das klare Signal auszusenden: Wir unterstützen die Unternehmen, die eine große Bereitschaft zeigen, hier zu investieren, zu forschen und zu produzieren. Das muss Berlin endlich verstehen. 

Glauben Sie, dass der Groschen noch fällt?
Ja, er muss fallen, schon weil der Druck immer höher wird. Es kommt eine Zeit auf uns zu, die wehtun wird. Fällt der Groschen nicht, werden wir nicht nur in der Automobilindustrie von China überholt, sondern auch in unserer Lebensqualität. Das ist abzusehen. 

Wir können es also noch schaffen? 
Sicher. Wir haben in Deutschland nach wie vor die Voraussetzungen dafür: eine Tüftler-Infrastruktur mit gut ausgebildeten Leuten, die große Lust haben, etwas zu erreichen.

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