Wenn man verstehen will, was bei einem Unternehmen gerade falsch läuft, muss man oft an den Ausgangspunkt zurück. Zum Börsengang von Siemens Energy erklärte Aufsichtsratschef Joe Kaeser im Dezember 2019, man könne nun endlich das ganze "Wertschöpfungspotenzial" der früheren Energiesparte des Großkonzerns Siemens heben. Und Vorstandschef Christian Bruch ließ sich mit den Worten zitieren, der "größte Hoffnungsträger" des neuen Unternehmens sei die spanische Windkrafttochter Gamesa. Heute wissen wir: Siemens Energy hat in den letzten vier Jahren keine Werte geschaffen, sondern riesige Werte vernichtet. Und der große Hoffnungsträger erweist sich Monat für Monat als vollkommen hoffnungslose Dauerbaustelle. Nur mit Milliarden an Staatsgarantien kann der Konzern seine Geschäfte fortsetzen, wie sich am Montag nun endgültig bestätigte.
Siemens Energy leidet an dem Bayer-Syndrom. Bei dem Chemiekonzern war es der Kauf des Saatgutriesen Monsanto, der sich zu einem einzigen Unheil entwickelte. Bei dem Energiekonzern die (schrittweise) Übernahme des Wettbewerbers Gamesa, die im Desaster endete. Unternehmerische Fehlentscheidungen größten Ausmaßes, die sich möglicherweise überhaupt nicht mehr korrigieren lassen – oder nur noch durch eine brutale Aufspaltung der beiden Konzerne.
Sauerstoff reicht zum Überleben, aber nicht zur Genesung
Und noch eine Gemeinsamkeit verbindet die beiden so unterschiedlichen Unternehmen. Es waren die Vorsitzenden der beiden Aufsichtsräte, die man als die eigentlichen Verantwortlichen der ganzen heutigen Misere benennen muss: Werner Wenning bei Bayer, der sich über weite Strecken zum Komplizen seines wild gewordenen Vorstandschefs machte, statt ihn zu kontrollieren; und Joe Kaeser bei Siemens Energy, der sich als Architekt des ganzen Gebildes feiern ließ. Wenning zog wenigstens die Konsequenzen und trat vorfristig zurück, als sich das Desaster nicht mehr leugnen ließ. Bei Kaeser warten wir noch darauf.
Die Milliarden der Banken und des Staats (und der eher bescheidene Beitrag des früheren Mutterkonzerns Siemens) können das Syndrom nicht kurieren. Man gibt Sauerstoff, damit der Patient Siemens Energy überlebt. Aber gesunden kann das Unternehmen nur noch mit einer radikalen Operation. Und viel Zeit bleibt nicht mehr dafür, weil der Konzern weiterhin Kapital vernichtet. Und das Schlimmste für die Aktionäre der ersten Stunde ist: Sie werden ihr Geld bei Siemens Energy nie wieder sehen, selbst wenn sich ihr Unternehmen tatsächlich einer Radikalkur unterzieht.
Die Hoffnung, dass es irgendwann bei Siemens Energy nach vielen vergeblichen Anläufen doch noch klappt, ruht auf vielen wackligen Annahmen. Der Windkraftmarkt gehört zu den wettbewerbsintensivsten Branchen der Welt. Selbst die besten Unternehmen verdienen gegenwärtig kaum Geld. Die chinesischen Hersteller unterbieten ihre Wettbewerber mit Preisen, die sie nur durch günstige Finanzierungen ihrer Staatsbanken unterbreiten können. In so einem Umfeld kommt es früher oder später zu einer weiteren harten Marktbereinigung. Den Letzten beißen dann die Hunde. Und das könnte Siemens Energy sein.
Dieser Artikel erschien zuerst bei unseren Kollegen von CAPITAL