Das hat sich niemand träumen lassen: Während Großbritannien vor einem möglichen Austritt aus der Europäischen Union steht, sind die britischen Industrieunternehmen in bester Laune - so gut wie lange vor dem Brexit-Votum nicht. Nach einer kurzen Schockstarre kehren die britischen Produzenten offenbar schon wieder zur Normalität zurück, sagen Ökonomen. Und das ist noch nicht alles: Sie profitieren sogar von dem dramatischen Verfall ihrer Währung seit dem Referendum.
Britische Wirtschaft wächst
Es ist der stärkste Zuwachs in der fast 25-jährigen Geschichte der Datenerhebungen: Das einflussreiche Londoner Marktforschungsinstitut Markit teilte am Donnerstag mit, dass der Stimmungsindikator für die britische Industrie im August um 5,0 auf 53,3 Punkte gestiegen ist - und damit auf den besten Wert seit Oktober 2015, also lange vor dem Brexit-Votum am 23. Juni.
Ein zwischenzeitlich starker Stimmungseinbruch im Juli direkt nach dem Referendum ist damit weit mehr als wettgemacht. Dabei hatten Experten auch für August weiter mit Katerstimmung gerechnet, die eine schrumpfende Industrieproduktion bewirken dürfte. Doch es kam alles anders: Die Zeichen in der britischen Industrie stehen jetzt auf Wachstum.
Paul Hollingsworth, Experte beim Londoner Forschungsunternehmen Capital Economics, ist überrascht. Die Daten zeigen "dass der Industriesektor den anfänglichen Schock nach dem Referendum überwindet", sagt der Ökonom. Rückkehr zur Normalität? Schon jetzt, wo noch völlig unklar ist, welche Konsequenzen genau das Brexit-Votum haben wird?
Nach dem Brexit ist vor dem Alltag
Offenbar sind die britischen Unternehmer im Juli erst einmal dem Motto Abwarten und Tee trinken gefolgt; und jetzt geht es wieder zurück an die Arbeit. "Die Unternehmen berichten, dass Geschäftstätigkeiten, die im Juli zunächst nach hinten verschoben wurden, nun wieder aufgenommen wurden, weil die Hersteller und ihre Kunden allmählich wieder anfangen, zum Alltagsgeschäft zurückzukehren", sagt Markit-Ökonom Rob Dobson.
Mit so viel Gelassenheit der Briten haben neben Ökonomen auch die Anleger an den Finanzmärkten nicht gerechnet. Das britische Pfund und die Renditen auf britische Staatsanleihen legten nach den Daten kräftig zu - beides ein Zeichen für überraschend gute Nachrichten von der Insel.
Aber hinter der guten Laune der Industrieunternehmer steckt mehr als nur stoische Gelassenheit. Einer der Hauptgründe sei das schwache britische Pfund, sagt Dobson. Nach dem Brexit-Votum hatte die Währung gegenüber dem US-Dollar um circa 13 Prozent an Wert verloren. Der Kursverfall aber stützt die britische Exportwirtschaft, weil Produkte von der Insel aus Sicht des Auslands billiger und damit erschwinglicher werden. Die Pfund-Schwäche habe in Großbritannien die Geschäftsimpulse aus den USA, Europa, Skandinavien, dem Nahen Osten und Asien beflügelt, so Dobson.
Inländische Nachfrage zieht an
Doch nicht nur in der Exportwirtschaft sieht es überraschend gut aus.
Auch bei der inländischen Nachfrage zeichne sich laut den Stimmungsdaten eine Erholung ab, sagt Capital Economics-Experte Hollingsworth. Dabei waren die Stimmungsindikatoren seit dem Brexit-Votum überhaupt die einzigen Daten, die zwischenzeitlich auf eine mögliche Rezession in Großbritannien hingedeutet hatten. Andere wichtige Indikatoren wie der Einzelhandelsumsatz sind dagegen besser als erwartet ausgefallen.
Ist also alles gut für die britische Wirtschaft? "Nein", sagt Daniel Vernazza, Experte beim Londoner Zweig der Bank Unicredit. Die Daten zur Stimmung in der Industrie seien mit Vorsicht zu genießen.
Vernazza hat sich die Zahlen genau angesehen: Sie geben wider, ob es mit der Produktion der Unternehmen bergauf oder bergab gehe. Darüber wie stark der Zuwachs ist, sagten die Zahlen jedoch nichts aus. Es sei also möglich, dass im Juli viele Unternehmen sehr starke Abstriche machen mussten, während sie im August nur moderate Verbesserungen verzeichneten.
Dienstleistungssektor macht Sorgen
Außerdem beziehen sich die jüngsten Daten allein auf die Industrie.
Die mache aber nur 10 Prozent der britischen Wirtschaftsleistung aus, sagt Samuel Tombs, Experte beim Forschungsinstitut Pantheon Macroeconomics. Viel mehr Gewicht habe der Dienstleistungssektor, wo sich das schwache Pfund nicht vergleichbar positiv niederschlagen dürfte. Entsprechende Daten für August werden erst kommende Woche veröffentlicht. Zuletzt standen die Zeichen hier auf Schrumpfung.