Chodorkowski-Prozess Kolesnikowa liest und liest und liest

"Chodorkowski ist zur Anhörung seines eigenen Urteils verurteilt worden", witzelt Moskau. Seit Mitte Mai verliest die Richterin das Urteil gegen den Ölmagnaten. Ein Ende ist nicht in Sicht, denn Richterin Kolesnikowa gilt vor allem als korrekt.

Bevor Richterin Irina Kolesnikowa zu lesen beginnt, macht sie immer die gleiche Gebärde. Die Frau in den Vierzigern streicht ihr braunes Haar hinter die Ohren und rückt die Brille zurecht. Dann liest sie mit monotoner Stimme weiter aus dem etwa 1000 Seiten umfassenden Papierstapel, der für den tief gefallenen russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski das Urteil bedeutet. Tag für Tag schrumpft der Stapel nur wenig. Erst auf den letzten Seiten wird das Gericht in Moskau das Strafmaß wegen Betrugs, Steuerhinterziehung und Bildung einer kriminellen Vereinigung verkünden.

Russlands politisch wichtigster Prozess seit Jahren verläuft im Endstadium als langweilige öffentliche Lesestunde. Chodorkowski, Gründer des Yukos-Konzerns und Kreml-Kritiker, blickt schon gar nicht mehr zur Vorsitzenden Richterin unter dem russischen Doppeladler hin. Er kritzelt auf einem Notizblock oder tauscht aus dem Gitterkäfig heraus Zeichen mit seiner Frau Inna. Der Mitangeklagte Platon Lebedjew löst Kreuzworträtsel.

Die Journalisten notieren, wer einschläft

Die Journalisten notieren, wer einschläft: Erst sinkt ein Geheimdienstmann mit Pistole in den Schlaf, dann schließt der Wachmann neben dem Käfig die Augen, schließlich erwischt es auch den Gerichtssekretär. Richterin Kolesnikowa liest unbeirrt Seite für Seite. Wenn sie gelegentlich fünf Minuten Pause macht, springen ihre Beisitzerinnen Jelena Maximowa oder Jelena Klinkowa ein.

"Chodorkowski ist zur lebenslangen Anhörung seines eigenen Urteils verurteilt worden", wird in Moskau gewitzelt. Die Langeweile hat nach Auffassung der Verteidigung Methode. Die Aufmerksamkeit der Anhänger Chodorkowskis, die täglich vor dem Gericht demonstrieren, und der Medien solle erschöpft werden. Nach russischem Prozessrecht muss das komplette Urteil verlesen werden, bei komplizierten Fällen auch ein langes. "Ich weiß nicht, was für mich der bisherige Rekord war, aber dieses Gericht hat ihn auf alle Fälle übertroffen", sagt der Verteidiger Genrich Padwa.

Das Gericht selbst macht keinerlei Angaben über die Richterin Kolesnikowa. Sie wirke wie die "Quintessenz sowjetischer Bürokratie", schreibt die englische Zeitschrift "Spectator". Dagegen nennt die Moskauer Zeitung "Kommersant" sie eine "junge, schlanke Frau mit einem akkuraten, kastanienbraunen Schopf". Im Unterschied zu vielen russischen Richtern an untergeordneten Gerichten sei sie höflich und korrekt. Die Anrede "Euer Ehren" komme ihr völlig zu Recht zu, meint die Wirtschaftszeitung "Wedomosti".

Kolesnikowas Korrektheit kam im Prozessverlauf vor allem der Anklage zugute, deren Anträgen stets stattgegeben wurde. Für die Verteidigung gab es fast nur Tadel, ihre Anträge wurden abgelehnt.

Urteil stammt nicht vom Gericht sondern aus dem Kreml

Alle Moskauer Beobachter gehen davon aus, dass der Schuldspruch gegen Chodorkowski nicht vom Gericht, sondern im Kreml bei Präsident Wladimir Putin gefällt wurde. Trotzdem wirke Kolesnikowa nicht wie eine Marionette, so "Wedomosti". Es sei nur schwierig zu sagen, was sie antreibe, ob "ideologische Solidarität" mit der Anklage oder der Stolz auf einen komplizierten Prominentenfall.

Für die vielen Unterbrechungen und die schwankende Lesezeit zwischen drei und sechs Stunden täglich hatte die Boulevardzeitung "Moskowski Komsomolez" am Dienstag eine überraschende Erklärung: Eine der Beisitzerinnen sei in anderen Umständen und halte es nicht länger in dem stickigen Saal aus.

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Friedemann Kohler/DPA