FSO-Beamter Kein Internet, identische Büros: Ex-Sicherheitsmitarbeiter berichtet im Exil über Putins Alltag

Gleb Karakulov im Interview mit dem Dossier Center
Gleb Karakulov im Interview mit dem Dossier Center
© Screenshot Youtube
Gleb Karakulov arbeitete bis Oktober 2022 für den Sicherheitsdienst von Wladimir Putin. Dann floh er ins Ausland. In einem langen Interview berichtet er, wie der russische Präsident tickt und was innerhalb des Kremls vor sich geht.

Am 14. Oktober 2022 ergriff der Russe Gleb Karakulov die Chance: Er floh kurz vor dem Ende eines Gipfeltreffens in Kasachstan. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er dreizehn Jahre für Wladimir Putin gearbeitet, im FSO, dem Dienst zum Schutz des russischen Präsidenten. Dort war er Hauptmann in der Direktion für Präsidialkommunikation, die eine verschlüsselte Kommunikation des Präsidenten und der Regierung ermöglicht.

Die Flucht war keine spontane Entscheidung. Für Karakulov war schon lange vor diesem Oktobertag klar, dass er seinen Job nicht mehr machen wollte, wie er dem Dossier Center in einem ausführlichem interview erzählte. Das Dossier Center ist eine Organisation, die kriminelle Aktivitäten verschiedener Personen verfolgt, die mit dem Kreml in Verbindung stehen. Es wird von dem früheren Oligarchen Michail Chodorkowski finanziert, einem der größten Gegner und Kritiker Putins.

Das Center habe mehrere Stunden mit Karakulov gesprochen, seinen Hintergrund und seine Dokumente auf Echtheit geprüft und bestätigt. Mehrere Fernsehsender strahlen das Interview aus, darunter die öffentlich-rechtlichen Sender DR aus Dänemark, NRK aus Norwegen und SVT aus Schweden. Die Sender konnten ebenfalls Angaben aus dem Interview verifizieren, aber nicht selbst mit Gleb Karakulov sprechen. Journalisten der TV-Sender konnten dafür mit Mitarbeitern des Dossier Centers sprechen und so in Erfahrung bringen, wie sie die Informationen und Angaben überprüften und ob sie Karakulov für glaubwürdig halten.

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"In weniger als zwei Jahren sollte ich in den Ruhestand gehen", erzählt Karakulov. "Ich wollte meine Zeit absitzen, meine Hypothek abbezahlen und das wars; ich würde meinen Vertrag nicht verlängern." Doch im Februar 2022 entschied sich Putin, in die Ukraine einzumarschieren.

Er habe nicht länger im Dienste des Präsidenten stehen können, so der 36-Jährige. "Ich halte ihn für einen Kriegsverbrecher." Karakulov sei es unmöglich gewesen, "seine kriminellen Befehle auszuführen".

Gleb Karakulov und seine Familie fliehen aus Russland

Der ehemalige FSO-Beamte wollte daher seinen Vertrag kündigen. Im September 2022 kam es dann allerdings zu einer Mobilmachung. "Mir war klar, dass ich, auch wenn ich aus dem Dienst ausscheiden würde, Reserveoffizier werden und nach meiner Entlassung direkt an die Front geschickt werden würde."

Wenig später sollte er nach Astana, in die Hauptstadt Kasachstans, wo Wladimir Putin an einem Gipfeltreffen mit GUS-Staaten teilnehmen sollte. "Es war eine gute Gelegenheit." Seine Frau und Tochter seien ihm nachgereist. Kurz vor Ende des Gipfels sei er mit beiden zum Flughafen gefahren und habe mit ihnen ein Flugzeug nach Istanbul bestiegen. Seinen Kollegen habe er vorgegaukelt, er sei krank.

Wladimir Putin (M) am 14. Oktober 2022 bei einem Treffen der GUS in Kasachstan
Wladimir Putin (M) am 14. Oktober 2022 bei einem Treffen der GUS in Kasachstan. Gleb Karakulov floh an diesem Tag ins Ausland.
© Dmitry Azarov / SPUTNIK / AFP

Wladimir Putin nutzt das Internet nicht

Jetzt leben er und seine Familie an einem geheimen Ort, irgendwo außerhalb Russlands.

Doch der Überläufer macht sich sorgen; er wird von der Polizei in seiner Heimat gesucht. "Angesichts der Tatsache, dass unsere Verwandten am 8. oder 9. November Besuch von ihnen (russischen Sicherheitskräften, Anm. d. Red.) bekommen haben, spüre ich eine wachsende Unruhe in mir."

Dennoch will Gleb Karakulov auspacken. Über den Kreml, seinen Arbeitgeber und über Putin ­­– den er im Übrigen nie persönlich gesprochen habe.

Der FSO sei seinen Worten zufolge eine "wirklich autonome Organisation", die viele Aufgaben hat. Doch alle drehen sich um die Sicherheit Putins und seine körperliche Unversehrtheit.

"Alle Lebensmittel werden kontrolliert, und es gibt einen speziellen Dienst, der diese Tests durchführt: das biologische Sicherheitszentrum."

Auch Feuerwehrleute seien bei Reisen dabei, um etwa brandschutztechnischen Vorschriften auf Reisen zu überprüfen.

Einige Einheiten kümmerten sich um Videokonferenzen, Telefonleitungen, Internet und Unterstützung am Arbeitsplatz, so Karakulov. Bei Putin gebe es aber eine Besonderheit: "Er nutzt das Internet nicht."

Putin sei "bei besserer Gesundheit als viele andere Menschen in seinem Alter"

Auch ein Handy oder gar Smartphone nutze er nicht. "In all meinen Dienstjahren habe ich ihn nicht ein einziges Mal mit einem Mobiltelefon gesehen. Wenn wir den Premierminister auf Geschäftsreisen begleiten, reist in der Regel eine weitere Person mit, die für das Internet zuständig ist – ein digitales Büro, ein Laptop und Zugang zum Netz. Bei Putin wird er nicht gebraucht."

Putin lebe in einem "Informationsvakuum", da er nur Informationen aus seinem engsten Umfeld erhalte. Aber Videokonferenzen nutze der Präsident, besonders seit Beginn der Corona-Pandemie.

Dies hänge auch mit den strengen Corona-Maßnahmen Putins zusammen, so Karakulov. "Wir haben immer noch einen sich selbst isolierenden Präsidenten. Wir müssen zwei Wochen lang eine strenge Quarantäne vor jeder Veranstaltung einhalten, auch wenn sie nur 15 bis 20 Minuten dauert. Es gibt einen Pool von Mitarbeitern, die diese zweiwöchige Quarantäne überstanden haben. Sie gelten als 'sauber' und können im selben Raum wie Putin arbeiten." Die Assistenten Putins müssten sogar mehrmals täglich PCR-Tests machen.

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"Ich habe keine Ahnung, warum; wahrscheinlich macht er sich einfach Sorgen um seine Gesundheit." Diese sei aber gut, so Karakulov. "Er ist bei besserer Gesundheit als viele andere Menschen in seinem Alter." Wenn Putin gesundheitliche Probleme habe, dann seien diese auf sein Alter zurückzuführen. Putin ist 70 Jahre alt.

"Sein Blick auf die Realität ist verzerrt"

Dennoch sei Putin ein Arbeitstier, sagt Karakulov: "Der Arbeitskalender des Präsidenten ist extrem voll. (…) Putin arbeitet viel, das kann man auf seinen Reisen sehen. Er geht nicht vor zwei oder drei Uhr morgens Moskauer Zeit ins Bett. Als er in Kamtschatka war, hatte er ein Treffen mitten in der Nacht, einfach weil es in Moskau gerade Tag war, und das war für ihn praktisch."

Ein weiteres Detail über Putin: "Seine Büros, ob in St. Petersburg, Sotschi oder Nowo-Ogarjowo, sind alle gleich, das heißt, dort ist alles identisch."

Wladimir Putin während einer Video-Konferenz in seiner Residenz Nowo-Ogarjowo, außerhalb Moskaus
Wladimir Putin während einer Video-Konferenz in seiner Residenz Nowo-Ogarjowo, außerhalb Moskaus. Das Foto entstand im April 2022.
© Mikhail KLIMENTYEV / SPUTNIK / AFP

Putin habe sich nach Angaben Karakulovs auch verändert. Er sei nicht mehr derselbe Präsident, wie der, für den er 2009 angefangen habe, zu arbeiten. "Es handelt sich um zwei unterschiedliche Personen, was ihr Verhalten angeht. Als der ehemalige FSB-Chef Premierminister und später Präsident wurde, war er energisch und aktiv." Inzwischen habe sich Putin abgekapselt.

"Sein Blick auf die Realität ist verzerrt. Ein vernünftiger Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts, der alles, was in der Welt geschieht, objektiv betrachtet, geschweige denn die Entwicklungen zumindest mittelfristig vorhersehen kann, hätte diesen Krieg nicht zugelassen."

Gleb Karakulov mit Appell an seine Landsleute

Wie es jetzt für Gleb Karakulov und seine Familie weitergehen soll, weiß er noch nicht. "Alles ist im Fluss." Er will nur eins: "Mein höchstes Ziel ist, dass mein Kind den Schrecken des Krieges nicht erlebt." Seine Tochter solle in Frieden aufwachsen und ein anständiger Mensch werden.

Seine ehemaligen Kollegen fordert er auf: "Ihr habt Informationen, die nicht im Fernsehen ausgestrahlt werden. Ich habe nur einen winzigen Teil davon gesehen. Tretet vor, unterstützt mich. Ihr werdet unseren Bürgern helfen, die Wahrheit zu erfahren. (…) Ihr dürft keine kriminellen Befehle befolgen und diesem Kriegsverbrecher, Wladimir Putin, dienen."

Und für seine russischen Landsleute hat er ebenfalls eine Botschaft: "Beantwortet diese Frage: Hat sich euer Leben in den letzten zehn Jahren verbessert? Und in den letzten acht, neun Monaten? Das glaube ich nicht. Das zeigt, dass etwas schiefläuft. Das bedeutet, dass die Führung des Landes ihre Arbeit nicht richtig macht."

Putin lebe in einem Kokon, der sich in seinen Residenzen verkrieche und um sein Leben fürchte, so Karakulov. "Er schätzt nur sein eigenes Leben und das Leben seiner Familie und Freunde. Das Leben Ihrer Familie und Ihrer Freunde ist für ihn nicht von Interesse. Indem er Männer aus ihren Familien reißt und sie zum Abschlachten in die Ukraine schickt, zeigt er, dass er sich nicht im Geringsten darum schert, was mit unserem Land und der Ukraine geschieht."

Er fordert die Russinnen und Russen auf, ihre Stimme zu erheben. "Sagen Sie es so laut wie möglich, direkt an den Kreml, persönlich an Putin. Die Verfassung garantiert das Recht auf friedliche Versammlungen, Kundgebungen und Aufmärsche. Selbst wenn Putin in einem seiner vielen Bunker bleibt, würde man ihm mit Sicherheit sagen, dass das Volk gegen den Krieg ist." Der Krieg müsse enden und es sei an der Zeit, das Schweigen zu brechen.

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