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Otto-Konzern Kinderarbeit für den Heine-Versand

In Indien haben kleine Jungen unter erbärmlichen Bedingungen Blusen für das Versandhaus Heine bestickt, das zum Otto-Konzern gehört. Manche wurden als Arbeitssklaven verkauft. Ein Blick hinter die Kulissen der globalen Textilwirtschaft
Von Dan McDougall und Stefan Schmitz

Raju, der wie ein Zehnjähriger aussieht, hockt in einem stinkenden Kellerloch in Neu-Delhi. Er stickt und stickt und stickt - 14 Stunden am Tag verziert er Blusen mit Pailletten. Genauso wie die anderen Kinder, die hier zwischen Stapeln mit halb fertigen Textilien schuften. Ein Junge, Anil, sagt, er sei zwölf. An der Rückseite seiner Beine hat er frische Wunden. Der Aufseher steht daneben, als der Kleine heftig bestreitet, geschlagen worden zu sein. "Ich will hier arbeiten", sagt er. "Da weiß ich, wo ich schlafen kann." Der Rücken tut ihm weh von der gebeugten Haltung bei der Arbeit. Die Jungen in der Werkstatt hocken und knien vor den auf Rahmen gespannten Textilien. Stühle gibt es nicht für sie. Manchmal hören sie, wie draußen Kinder spielen. "Es ist meine Aufgabe zu arbeiten", sagt Anil. "Meine Eltern brauchten das Geld für andere Familienmitglieder und haben mich verkauft."

Offenbar haben alle Kontrollen versagt

Keines dieser Kinder wird je von der Otto-Gruppe in Hamburg gehört haben und erst recht nicht von der Otto-Tochter Heine, deren Label hinten in die Blusen auf ihren Stickrahmen eingenäht ist. 39,90 Euro kostet die Bluse bei dem großen deutschen Versender. Im Katalog Herbst/Winter 2006 präsentiert ein braun gelocktes Model das aufwendig verzierte Stück auf Seite 4. An anderer Stelle wird versichert, dass alles unter strenger Kontrolle der Arbeitsbedingungen hergestellt wurde. Von der "Verknüpfung des Imports von Waren und Konsumgütern mit dem Export von Umwelt- und Sozialstandards" schwärmt Konzernchef Michael Otto auf der Homepage seines Unternehmens.

Bei Anil und seinen Leidensgenossen haben anscheinend alle Kontrollen versagt. Kurz vor Weihnachten hat der stern Otto erstmals mit Bildern aus der Kellerwerkstatt konfrontiert. "Ein schlimmer Einzelfall", sagt Johannes Merck, der in der Otto-Gruppe einen Direktionsbereich leitet, der sich um die soziale Verantwortung des Unternehmens kümmert. "Schockierend" findet den Vorgang auch Michael Arretz, der Chef einer Otto-Tochter, die Unternehmen bei der Durchsetzung von Sozialstandards in der Dritten Welt berät. Im Auftrag des Mutterkonzerns ist er dem Fall in Indien nachgegangen. Die beiden Manager leugnen nicht, dass es in dem Kellerloch Kinder- und Zwangsarbeit gab. Seit Wochen sind die Herren aus der Hamburger Konzernzentrale pausenlos im Einsatz. Sie wollen Aufklärung. Aber auch: Schadensbegrenzung - und enthüllen dabei, wie der Kampf um billige Textilien funktioniert und welche Kompromisse machen muss, wer angesichts der "Geiz ist geil"-Mentalität der Kundschaft überleben will.

Wunde Fingerkuppen

Arretz hat Schaubilder entworfen, die zeigen, was gut lief und was nicht. Er präsentiert Akten in Klarsichthüllen. Zahnärztliche Gutachten, die belegen sollen, dass die meisten der Arbeiter mindestens 15 sind. Das ist die eine Seite. Die andere kennt keine klimatisierten Büros, in denen weiße Männer in Anzügen diskutieren.

Die Fingerkuppen vieler Kinder sind wund und voller Blasen. Sie müssen die Stahlnadeln fest packen, um die silbernen und goldenen Fäden durch das Tuch zu stecken und zu ziehen. "Diese Kinder sind keine Sklaven, sie arbeiten für ihre Familien", sagt der Aufseher. "Sie werden gut behandelt. Wir geben ihnen zu essen, und sie schlafen hier. Das ist komfortabler als in vielen anderen Fabriken." Er beteuert, dass einer der Jungen, der aussieht, als wäre er 10, schon 15 Jahre alt sei. "Er ist alt genug, er kann arbeiten." Vor allem: "Er kann gehen, wenn er will."

Schon vier Monate ohne Lohn

Bei den verängstigten Kindern selbst klingt das anders. Ein Junge berichtet, dass er aus Bihar stammt, dem ärmsten Teil Indiens. "Meine ganze Familie weiß, dass ich zum Arbeiten in Delhi bin. Ihnen wurde Geld für mich bezahlt." Mit dem Zug sei er von Patna in die Hauptstadt gekommen. Aber wenn sie daheim gewusst hätten, was ihn hier erwartet, dann hätten sie ihn nicht gehen lassen. Da ist er ganz sicher. Nur anrufen kann er nicht, weil seine Familie kein Telefon hat. Und schreiben kann er auch nicht - das hat der junge Arbeitssklave nie gelernt. "Ich kann nur hoffen, dass ich den Preis abarbeite, den sie für mich gezahlt haben." Bislang allerdings ist er diesem Ziel noch nicht näher gekommen. "Der Aufseher hat mir gesagt, dass ich keinen Lohn kriege, weil ich noch lerne." Seit vier Monaten geht das so. Zwei Tage hat er in dieser Zeit nicht geschuftet; und frei gab es nur, weil die Werkstatt unter Wasser stand.

Einer der Jungen sei weggerannt und, wie der Aufseher erzählt habe, jetzt im Gefängnis. Als Anil sagt, er wolle nicht ins Gefängnis, klingt das absurd. Denn an der Tür hängt ein dickes Vorhängeschloss. Als es Zeit zu essen ist, werden dreckige Metallschüsseln hereingereicht, in denen matschige Kartoffeln in einer Art Curry schwimmen. Die Kinder tunken Weizenmehlfladen in die Schalen. Nach der Mahlzeit waschen sie ordentlich ihre Hände und gehen zurück an die Arbeit.

40 Millionen Kinder arbeiten

In Indien arbeiten etwa 40 Millionen Kinder. Sie werden vor allem in der Landwirtschaft beschäftigt. Andere knüpfen Teppiche oder stellen Feuerwerkskörper her. Aber auch in der Bekleidungsindustrie findet man sie. "Die Entdeckung dieser Werkstatt ist natürlich ein Schlag für Heine, aber es ist nur die Spitze des Eisbergs", sagt Cheetal Raina von der Gruppe "Global March Against Child Labour". Bestickte Damenkleidung sei in vielen Katalogen, bei Internetverkäufern und in Geschäften zu finden. Sie sei gefragt und billig. Raina hält die Folgen für verheerend: "Für Zehntausende Kinder, die gezwungen sind, die Stoffe zu besticken, ist das zu einem Albtraum geworden."

Arretz, ein drahtiger Typ mit grauen Strähnen im Haar, hat selbst einen 14-jährigen Sohn. Ihn lässt nicht kalt, was er in Indien gesehen hat. Aber er ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass europäische Emotionen nicht zu indischen Fakten passen. Die "young workers" kämen aus Nepal und Bihar. Dort gäbe es für sie kaum etwas zu essen, keine warmen Schlafplätze. Nichts. Ihre Kindheit sei mit acht Jahren vorbei - dann beginne das Arbeitsleben. Das mache hart. Arretz berichtet, die Jungs, mit denen er gesprochen habe, seien in vielerlei Hinsicht weiter entwickelt als sein Sohn; auch wenn sie körperlich zurückgeblieben seien und kindlich aussähen.

Billige Textilien für Deutschland

Das ist die bitterste Erkenntnis: Textilien, bei uns billig angeboten, werden ganz legal von Teenagern hergestellt, die in Kinderkörpern stecken und doch erfahrene Werktätige sind. Von jungen Menschen, für die eine stinkende Decke und ein Dach über dem Kopf oft schon eine dramatische Verbesserung ihrer Lebensbedingungen bedeuten. Bleibt dennoch die Frage: Dürfen westliche Unternehmen daraus Profit schlagen?

Nachdem der stern Otto mit den Fakten konfrontiert hatte, ließ der Konzern die meisten Beschäftigten aus der Kellerwerkstatt von einem Zahnarzt untersuchen, der sich genau ansah, wie weit welcher Backenzahn entwickelt ist. Das Ergebnis: alle anscheinend mindestens 15 Jahre alt. Nach den Gesprächen in Neu-Delhi hat das Unternehmen trotzdem bei sechs Kindern Zweifel und gesteht ein: Sie könnten unter 14 sein - zum Teil deutlich.

Otto will sich nun um die Kinder kümmern

Und was ist mit den Fingerkuppen, mit den Wunden? Arretz sagt, er habe genau hingesehen und keine Verletzungen bemerkt. Ärztlich untersucht wurden sie nicht. Ein Zahnarzt guckt eben nur in den Mund. In dem Dossier, das Arretz mitgebracht hat, heißt es, "der Prozess des Pailettenaufnähens birgt keine Verletzungsgefahr". Otto will sich nun um die Kinder kümmern, ihnen eine Ausbildung ermöglichen. Die Verträge mit dem Lieferanten, der den Subunternehmer beschäftigt hat, werden gekündigt. Der Subunternehmer selbst darf nicht mehr für Otto arbeiten.

Das klingt nach einem klaren Schnitt. Aber bis dahin war es ein weiter Weg. Zunächst wollte der Konzern den Lieferanten zu einem Vorzeigeunternehmer aufbauen und auch dem Ausbeuter der Kinder eine Chance geben, sich zu bessern - er sollte sogar die Verantwortung für die Kinder übernehmen. Erst als die Otto-Manager entdeckten, dass der indische Kellerbetreiber ein weiteres Drecksloch unterhielt, in dem er die Beschäftigten aus der ersten Werkstatt weiterschuften ließ, änderten sie ihre Strategie. Mit denen nicht mehr, heißt nun ihre Devise.

Unwissend gestellt

Nach dem ersten Hinweis des stern auf Kinderarbeit am 20. Dezember 2006 setzte sich Otto mit dem Lieferanten in Indien in Verbindung. Einen Tag später schickte der eine Mail: Er habe gemeinsam mit Managern aus der Otto-Niederlassung in Indien die Werkstatt besucht. Die Mitarbeiter hätten gesagt, sie seien zwischen 15 und 17 Jahre alt. Kinderarbeit liege also nicht vor. Trotz dieser Information zeigten sich die Hamburger Versandhändler noch im Januar bei einem Gespräch mit dem stern hochinteressiert zu erfahren, an welchem Ort die Fotos der Kinder gemacht worden seien - da war der Laden bereits seit einigen Tagen geschlossen. In der Mail aus Indien wird ausdrücklich erwähnt, dass "zwei Ausländer und zwei Inder" in die Werkstatt eingedrungen seien, eine halb fertige Bluse mitgenommen und Fotos der Arbeiter gemacht hätten. Warum erweckte Otto dann noch im Januar den Eindruck, nicht zu wissen, wo die Werkstatt liegt? Sie hätten eine Bestätigung gebraucht, sagt das Management zu dem Vorwurf, getrickst zu haben. Die Nervosität ist greifbar. Die Vorwürfe rühren an das Selbstverständnis des Handelshauses.

Der Otto-Konzern hat sich wie kaum ein anderes Unternehmen auf die Fahnen geschrieben, dass seine Produkte zu fairen Bedingungen hergestellt werden. Die Vertragspartner müssen einen Verhaltenskodex unterschreiben, in dem die Rechte der Beschäftigten festgeschrieben sind. Endlose Arbeitstage sind danach ebenso unzulässig wie der Einsatz von Zwangsarbeitern und Kindern. Otto war wesentlich daran beteiligt, dass sich große deutsche Einzelhändler auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt haben, um soziale Mindeststandards durchzusetzen.

Offensive Werbung mit dem guten Gewissen

Daraus ist mittlerweile ein europäischer Verbund geworden, in dem sich über 60 Handelsunternehmen und Textilverbände zusammengeschlossen haben. Das hehre Ziel: kein Wettbewerb um den niedrigsten Preis unterhalb der Schwelle, an der die Billigproduktion zur Menschenschinderei wird. Ottos Unternehmen wirbt offensiv mit der fairen Behandlung der Menschen, die die Textilien produzieren: "Shopping-Spaß mit 100 % gutem Gefühl", begrüßt das Unternehmen seine Kunden im Internet.

Das ist eine Gratwanderung. Die Kundschaft verlangt Qualitätsware zu Billigpreisen. Fast 15 Milliarden Euro Umsatz machte der Konzern im vergangenen Geschäftsjahr; knapp 300 Millionen Euro Gewinn blieben hängen. Damit gehört er zu den ganz Großen im internationalen Geschäft. Um sich einen solchen Spitzenplatz zu erobern, muss Otto billig liefern. Hunderte Fabriken rund um die Welt arbeiten für den Versender - die meisten da, wo Arbeit billig ist. Bei 90 Prozent der Lieferanten wurden die Arbeitsbedingungen überprüft.

Keine Kontrollen bei Sub-Sub-Unternehmen

Aber das reicht nicht: Denn niemand weiß, ob die Kunden von einem bestimmten Kleidungsstück im Katalog 1000 oder 20.000 Stück bestellen. "Das ist ein dynamisches Geschäft", sagt Otto-Kommunikationschef Thomas Voigt, "da müssen die Lieferanten hochflexibel sein." In der Praxis bedeutet das, dass sie nicht daran gehindert werden können, Aufträge weiterzugeben. Nur so kann alles in jeder Menge schnell beschafft werden. Tatsächlich vergibt Otto keine Aufträge an dunkle Kellerklitschen - aber an Unternehmer, die wiederum Subunternehmer beschäftigen, die dann womöglich die Stoffstapel in Kellern wie dem abladen, in dem Anil und die anderen schuften mussten.

Rund um die Werkstatt im Untergeschoss eines unauffälligen dreistöckigen Hauses regiert das Chaos. Dreck liegt auf den schmalen Straßen, in denen sich Kühe durch die Menschenmassen schieben. Bettler versuchen, ein paar Münzen zu erhaschen. Hunderte von Löchern wie das, in dem die Heine-Blusen bestickt wurden, gibt es hier. Vor vielen Werkstätten stehen Komplizen der Besitzer Schmiere und achten darauf, dass sich niemand zu sehr dafür interessiert, was drinnen passiert. In den vergangenen Monaten hat die indische Polizei eine ganze Reihe der illegalen Fabriken ausgehoben und mehrere hundert Kinder aus den Stickereien geholt. Doch viele Kinderschutzorganisationen sehen die Razzien eher als PR-Aktionen an. "Es ist unmöglich, diese furchtbaren Werkstätten alle dichtzumachen", fürchtet Kailash Satyarthi von "Global March Against Child Labour".

Otto will Bemühungen verstärken

Natürlich steht in dem Verhaltenskodex, den Otto und andere Händler von ihren Partnern in Indien unterschreiben lassen, auch, dass die gleichen Standards für alle Unternehmen gelten, an die Unteraufträge vergeben werden. Zu hundert Prozent kontrollieren lässt sich das nicht - auch wenn Otto nun seine Bemühungen verstärken will. Professor Sheotaj Singh, Mitbegründer eines Rehabilitationszentrums für Kinder, schätzt die Zahl der unzureichend überwachten Bekleidungswerkstätten in Delhi auf 5000. In seinem Zentrum will er dafür sorgen, dass diese Kinder nicht für ein Leben auf der Straße befreit wurden, sondern ein Bett, ein Dach, genug zu essen und eine Schulbildung bekommen.

Der Nachschub an billigster Arbeitskraft ist in Indien unerschöpflich - ebenso wie die Nachfrage nach billigen Stickereien im Westen. Das sind die Gesetze der Branche von Michael Otto, dem 63-jährigen Konzernchef, der sich auf seinen Rückzug von der Unternehmensspitze vorbereitet. Sein Name ist seit Jahren mit der Durchsetzung von Umwelt- und Sozialstandards in der Dritten Welt verbunden. Im vorigen Jahr wurden er und sein Vater Werner für ihr Lebenswerk mit dem Deutschen Gründerpreis ausgezeichnet, zu dessen Initiatoren auch der stern gehört. Über den im Dezember entdeckten Keller in Neu-Delhi und das Leid der mittelbar für ihn tätigen Kinder wurde er laufend unterrichtet. Mit dem stern darüber sprechen wollte er nicht. Die schicke Bluse von Seite 4 des Heine-Katalogs mit "Batik-Optik, Floral-Print und Pailletten-Stickerei" ist zurzeit nicht lieferbar.

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