Karl Marx ist zurück. Zumindest in Japan. Dort erscheint in wenigen Tagen eine Neuauflage seines Klassikers "Das Kapital" - als Manga-Comic. Schon jetzt ist klar: Es wird ein Bestseller werden. Denn antikapitalistische Literatur ist in Japan gerade ziemlich angesagt. Das 1929 erschienene Klassenkampf-Epos "Karnikosen" des sozialistischen Autors Takiji Kobayashi hat sich seit Januar schon mehr als 700.000-mal verkauft; früher fanden sich pro Jahr keine 5000 Abnehmer für die Geschichte über meuternde Matrosen auf einem Krabbenkutter. Und auch das Werk des ehemaligen Goldman-Sachs-Bankers Hideki Mitani mit dem Titel "Gieriger Kapitalismus und die Selbstzerstörung der Wall Street" verkauft sich zurzeit wie geschnitten Sushi.
Hunderttausende bangen um ihre Jobs
Ein Linksruck geht durch Japan. Die Weltwirtschaftskrise trifft das Land wie kaum ein zweites. Hunderttausende Japaner bangen um ihre Jobs. Wirtschaftsminister Kaoru Yosano warnt vor einer Deflation. Das Forschungsinstitut der Finanzgruppe Mizuho rechnet für 2008 und 2009 mit einer Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts. Und immer mehr Firmenchefs wissen sich kaum mehr zu helfen: "Wir stehen vor einer Krise, wie sie unsere Wirtschaft noch nicht gesehen hat", sagt Makoto Kawamura, Chef des Drucker- und Elektronikbauteile-Herstellers Kyocera.
Rezessionen hat Japan schon einige durchgemacht: vier allein seit Beginn der 90er. Damals platzten die großen Blasen am Aktien- und Immobilienmarkt, das Land stürzte in eine jahrelange Depression. Doch selbst da schien die Lage nicht so hoffnungslos wie heute. Anders als die meisten Industrienationen hat Japan kaum noch Möglichkeiten, auf den Abschwung zu reagieren. In ihrem jahrelangen Kampf gegen all die Krisen hat die zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde ihr Pulver verschossen.
Bangen ums Exportgeschäft
"Die Krise der 90er-Jahre war eine des Binnenmarkts, und wirklich gelöst hat man die Probleme bis heute nicht", sagt Stefan Schneider, Konjunkturexperte der Deutschen Bank. "Jetzt kommt auch noch das zweite Standbein der Wirtschaft unter die Räder: der Exportsektor."
Das Auslandsgeschäft war bisher die Rettung für die japanische Industrie. Die vergangenen Krisen haben das Vertrauen im Land zerstört: Millionen von Japanern horten ihr Geld, um für die nächste Krise gerüstet zu sein, statt es auszugeben. Fast das gesamte Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre wurde im Export geschaffen; einige Topkonzerne erwirtschaften dort bis zu 98 Prozent ihrer Gewinne.
Gefahr: Teurer Yen
Nun aber gefährden zwei Trends das Exportgeschäft: Zum einen bricht in der Krisenzeit die Nachfrage nach japanischen Produkten ein, nach Elektrogeräten, Autos und Computern. Zum anderen explodiert der Wert der Landeswährung. Der Grund: das Ende der globalen Spekulationswelle, die oft über billige Yen-Kredite finanziert wurde. Gegenüber dem Euro hat der Wert des Yen seit August 30 Prozent zugelegt; entsprechend verteuern sich japanische Güter oder müssen die Produzenten ihre Margen senken. "Keine Volkswirtschaft der Welt hält so eine Blitzaufwertung aus", sagt der frühere stellvertretende Finanzminister Eisuke Sakakibara.
Bewahrheiten sich die Prognosen des Ministeriums für Wirtschaft, Handel und Industrie (METI), so wird die Industrieproduktion im vierten Quartal um fast neun Prozent einbrechen. Dies wäre der größte Rückgang seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1953.
Sorge um Flagschiff Toyota
Die Unternehmen bekommen den Einbruch bereits zu spüren. Der Elektronikriese Sony musste seine Gewinnerwartung für das aktuelle Geschäftsjahr um 57 Prozent senken, Wettbewerber Panasonic erwartet sogar 90 Prozent weniger Profit.
Selbst der Vorzeigekonzern des Landes leidet. Toyota, im vergangenen Geschäftsjahr mit einem Betriebsgewinn von umgerechnet 14 Milliarden Euro noch der profitabelste Autohersteller der Welt, schockierte die Japaner Anfang November mit der Vorhersage, der Gewinn werde in der zweiten Jahreshälfte auf 15 Mio. Euro schrumpfen. Experten halten selbst diese Prognose für zu optimistisch. "Toyota wird in der zweiten Jahreshälfte Verluste schreiben", sagt Christopher Richter, Analyst von CLSA Asia-Pacific Markets, das bisher Undenkbare voraus.
Automobilhersteller in der Krise
Fassungslos steht ein Toyota-Händler in Yokohama in seinem Laden. 2007 lief schon schlecht, doch in diesem November hatte er 35 Prozent weniger Kunden als zwölf Monate zuvor. "Wir wissen nicht mehr, was wir noch tun können, um Autos zu verkaufen", sagt der Mann. In Japan ist der Automobilabsatz um ein knappes Drittel gegenüber dem Vorjahr eingebrochen, so etwas hat es seit vier Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Und auch das Auslandsgeschäft läuft desaströs. In den Häfen an der US-Pazifikküste stehen sie überall herum: nagelneue Toyota, Mazda, Nissan und Honda, die niemand mehr kaufen will.
Die Lage ist so katastrophal, dass Nissan bereits seine Teilnahme an Messen in Chicago und Detroit abgesagt hat, nur um Kosten zu senken. Honda hat sich mit sofortiger Wirkung aus der Formel 1 zurückgezogen, Isuzu stellt Investitionen in Milliardenhöhe zurück, Toyota und Mazda bauen mehrere Tausend Stellen ab.
Grobmaschiges soziales Netz
Fast immer trifft die Sparwelle das Riesenheer der kaum abgesicherten Zeit- und Vertragsarbeiter. Wie Yoko, eine Video-Producerin in Tokio. Der 32-Jährigen wurde gerade gekündigt, "obwohl das Geschäft unserer Firma in Japan noch gut läuft", wie sie sagt. Sie muss als eine der ersten Beschäftigten ihres multinationalen Konzerns gehen. Weil es anderswo schlecht läuft - und weil man Yoko mit ihrem Zeitvertrag einfach kündigen kann.
41 Prozent der Japaner arbeiten heute entweder befristet, als Leiharbeiter oder in Teilzeit; seit den Krisen der 90er-Jahre ist ihr Anteil an der Arbeitnehmerschaft massiv gewachsen. Viele haben nun Angst um ihre Existenz. Anders als in Europa gibt es für Arbeitslose in Japan nur ein sehr grobmaschiges soziales Netz. Die Versicherung stützt Bedürftige maximal ein Jahr lang. Danach kommt nichts: Sozialhilfe gesteht der Staat nur Arbeitsunfähigen und Senioren ohne Rente zu.
Hoffnungslos überschuldet
Soziale Wohltaten kann sich Japans Regierung nicht leisten. Die Staatsverschuldung liegt bei 195 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - die Folge all der milliardenschweren Konjunkturprogramme, mit denen der Staat die Wirtschaft in den 90er-Jahren wieder beleben wollte. Auch in diesem Jahr hat Ministerpräsident Taro Aso schon zwei Stützungspakete mit einem Gesamtvolumen von mehr als 220 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Beide zeigen bisher wenig Wirkung. Ein drittes Paket lehnt Wirtschaftsminister Yosano vorerst ab. Begründung: Das Land sei überschuldet.
"Die Japaner haben nur noch wenig Spielraum", sagt der Deutsche-Bank-Stratege Schneider. "Mit Fiskalpolitik können sie nicht mehr viel machen und mit Geldpolitik auch nicht." So kann die Bank of Japan (BoJ) die Leitzinsen kaum noch senken: Diese liegen seit 13 Jahren unterhalb der Ein-Prozent-Marke; zurzeit sind es gerade 0,3 Prozent. Um die Wirtschaft trotzdem vor der drohenden Kreditklemme zu bewahren, greift die BoJ zu Notmaßnahmen. Sie stellt den Banken 25 Milliarden. Euro für Unternehmenskredite bereit - und akzeptiert auch Anleihen mit niedriger Bonität als Sicherheit.
Aufschwung für die Kommunisten
Solche finanzwirtschaftlichen Schachzüge werden im Land nur noch von Experten registriert; das Gros der Bürger hat längst das Vertrauen in Staat und Wirtschaft verloren. Noch in den Krisen der 90er-Jahre schluckten die Arbeitnehmer klaglos fast alle Beschlüsse des Managements. Doch mittlerweile ist ihr Ärger so groß, dass überall im Land Tausende auf die Straße gehen, um zu demonstrieren: gegen wachsende soziale Ungleichheit, die Ausbreitung unsicherer Arbeitsverhältnisse und gegen Regierungschef Aso.
Die Wut auf den Premier wächst - auch weil der sich bei einigen Reden danebenbenommen hat. So begrüßte Aso auf einer Veranstaltung seine Zuhörer mit "Meine Damen und Herren der niederen Klassen"; später schimpfte er, dass er keine Lust habe, faule Rentner mit seinem Geld zu unterstützen. Nun versucht der Ministerpräsident, seinen Ruf wieder aufzubessern: Er besucht Vertragsarbeiter, trifft die Jugend in billigen Tokioter Kaschemmen, fordert die Arbeitgeber zu Lohnerhöhungen auf.
Bislang profitieren vom Hin und Her nur die Kommunisten. Mehr als 10.000 Japaner sind in diesem Jahr der KP beigetreten; Hunderttausende laden sich aus dem Internet Reden von Parteichef Kazuo Shii herunter. Würde heute gewählt, bekäme die KP rund zehn Prozent der Stimmen. Offenbar hatte Karl Marx mit einer These doch recht: Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein.