Der Richter Helmut Lotzgeselle ist einer der renommiertesten Finanzrichter des Landes. Als Vorsitzender des 4. Senats des Hessischen Finanzgerichts war Lotzgeselle vor seiner Pensionierung federführend an wegweisenden Urteilen zum Cum-Ex-Steuerskandal und später, im Jahr 2020, auch zu sogenannten Cum-Cum-Geschäften beteiligt.
Sein Urteil aus dem Jahr 2020, das Cum-Cum-Geschäfte nochmals ausdrücklich für illegal erklärt, führte zu einer Verschärfung im Umgang mit den Steuergeschäften und veranlasste das Bundesfinanzministerium dazu, seine Auffassung zu Cum-Cum zu überarbeiten. Im Interview mit dem stern erklärt Richter Lotzgeselle, warum Cum-Cum-Geschäfte bereits seit der Jahrtausendwende problematisch sind, welche Ausflüchte Politik und Banken nutzen und äußert Unverständnis darüber, warum der Staat bis heute kaum einen Fokus auf die Wiedererlangung der Milliarden legt.
Herr Lotzgeselle, nachdem Ihr Senat bereits zwei Grundsatzurteile zu Cum-Ex-Geschäften erlassen hatte, haben sie im Jahr 2020 auch ein wegweisendes Urteil zu Cum-Cum-Geschäften gefällt. Was macht eigentlich den Unterschied zwischen diesen Geschäften aus?
Lassen Sie mich mit den Gemeinsamkeiten beginnen. In beiden Fällen sind unter maßgeblicher Beteiligung von Banken durch Aktiengeschäfte um den Dividendenstichtag dem Fiskus Milliarden Euro Steuern hinterzogen worden. Dabei ist der durch Cum-Cum-Geschäfte entstandene Schaden mit mindestens 28 Milliarden noch deutlich höher. Der Unterschied zwischen den Geschäften besteht in der Art und Weise der Tatbegehung. Während bei Cum-Ex-Geschäften durch verdeckte Gestaltungen einmal gezahlte Kapitalertragsteuer mehrmals erstattet wird, führen die missbräuchlichen Gestaltungen bei Cum-Cum-Geschäften zu einer Erstattung von Kapitalertragssteuer, obwohl darauf kein Anspruch besteht.
Seit wann wurden solche illegalen Cum-Cum-Geschäfte betrieben?
Betrieben wurden sie schon in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Bereits damals sah die Verwaltung darin einen Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten. Im großen Stil wurden die Geschäfte dann von den Banken Anfang der 2000er-Jahre betrieben, nachdem der Bundesfinanzhof unter Berufung auf § 50c EStG solche Geschäfte als rechtmäßig betrachtete. Als Reaktion auf das Urteil hat der Gesetzgeber dann 2001 die Norm des § 50c EStG gestrichen, auch wurde das Urteil des Bundesfinanzhofs mit einem Nichtanwendungserlass belegt. Demzufolge waren seit 2001 die Cum-Cum-Geschäfte, die nur darauf abzielten, die Dividendenbesteuerung für ausländische Anteilseigner zu umgehen, als missbräuchlich einzustufen und steuerlich nicht anzuerkennen. Das war seinerzeit auch die abgestimmte Meinung des BMF und der Länderfinanzministerien.
Können Sie sich erklären, warum trotzdem niemand die Geschäfte überprüft hat? Immerhin wird der Steuerschaden heute auf 28 Milliarden Euro geschätzt.
Nein, mir ist völlig unverständlich, wie man auf diese Geschäfte bei den Ermittlungen der Steuerfahndung keinen Fokus legen konnte. Vielleicht hat man das finanzielle Ausmaß nicht erkannt, vielleicht wollte man aber auch nur die Banken schützen oder den Bankenstandort Frankfurt nicht gefährden? Spätestens nachdem die immense Höhe des Steuerschadens für die politisch Verantwortlichen bekannt war, das dürfte jedenfalls 2015/2016 der Fall gewesen sein, hätte es verstärkter Anstrengungen bedurft, gezielt diese Fälle aufzudecken und die hinterzogenen Steuermilliarden zurückzuholen. Zu diesem Zeitpunkt hatte auch bereits der Bundesfinanzhof Cum-Cum-Geschäfte steuerlich nicht anerkannt.
Politiker und Finanzbeamte verweisen heute darauf, dass die rechtliche Lage damals nicht eindeutig gewesen sei.
Ich habe mich eingehend mit der Thematik auseinandergesetzt, sowohl in steuerrechtlicher als auch strafrechtlicher Hinsicht und dies in meinen Urteilen sowie Aufsätzen zu dem Thema auch eingehend begründet. Und ich kann nur sagen: Die Rechtslage war zumindest steuerlich ab 2001 mit Aufhebung der Vorschrift des § 50c EStG eindeutig als Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten anzusehen. Dies entsprach auch der abgestimmten Ansicht des BMF und der Landesfinanzministerien. Soweit insbesondere von betroffenen Bankenvertretern darauf verwiesen wird, dass es sich um normale Bankgeschäfte gehandelt habe, sind das Schutzbehauptungen. Jedem, der sich fachlich mit der Thematik befasste, musste klar sein, dass Geschäfte, die nur darauf abzielen, die gesetzlich vorgesehene Dividendenbesteuerung für ausländische Anteilseigner an inländischen Aktiengesellschaften zu umgehen, missbräuchlich und damit steuerlich nicht anzuerkennen sind. Allein das Vorliegen von Verfolgungsdefiziten, indem die Steuerbehörden und die Staatsanwaltschaften aus welchen Gründen auch immer ihrer Pflicht zur Aufdeckung von illegalen strafbaren Geschäften nicht nachkommen, führt nicht zur Legalisierung dieser Geschäfte.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat kürzlich vor einem Untersuchungsausschuss erklärt, dass Cum-Cum-Geschäfte in seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister keinerlei Thema gewesen seien. Überrascht Sie das?
Angesichts der Tatsache, dass Herr Scholz erst im April 2018 als Finanzminister nach Berlin gewechselt ist, überrascht mich das schon. Denn Cum-Cum-Geschäfte waren nicht nur Thema im Untersuchungsausschuss des Bundestages zu Cum-Ex, dessen Arbeit bereits Anfang 2017 abgeschlossen wurde, sondern auch bereits 2015/2016 Thema umfassender Berichte in der Wirtschaftspresse und im Fernsehen. In den Berichten war seinerzeit von einem Steuerschaden von 30 Milliarden die Rede. Ich denke, für jemanden, der persönlich mit der Einflussnahme auf illegale Cum-Ex-Geschäfte konfrontiert war und der das Amt eines Finanzministers anstrebt, müsste die Diskussion um Cum-Cum-Geschäfte durchaus ein Thema gewesen sein.
In Hamburg ist zuletzt ein Cum-Cum-Fall der HSH Nordbank publik geworden, die solche Geschäfte über 275,2 Millionen Euro getätigt haben soll. Die Bank soll ihre Deals allerdings erst im Anschluss an das sogenannte BMF-Schreiben von 2017 gegenüber dem Finanzamt publik gemacht haben. Das Schreiben legalisierte nämlich ihre Geschäfte aus der Vergangenheit.
Diese sogenannte Legalisierung der Geschäfte ist bei genauerem Hinsehen eine rechtliche Fehlinterpretation eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs und entfaltet als fehlerhafte Handlungsanweisung auch keine Bindungswirkung für die Finanzverwaltung. Das heißt, die Fälle können grundsätzlich sowohl steuerlich als auch strafrechtlich noch aufgegriffen werden. Gleichwohl ist für mich nicht nachvollziehbar, wie man seinerzeit eine solche Anweisung erteilen konnte.
Im Anschluss an Ihr wegweisendes Urteil zu Cum-Cum-Geschäften aus 2020 stufte das Bundesfinanzministerium in einem neuen Schreiben Cum-Cum-Deals dann grundsätzlich als illegal ein. Was ist seitdem passiert?
Das Urteil und spätestens das darauf folgende BMF-Schreiben hätten für die Steuerbehörden eigentlich Anlass sein müssen, die Cum-Cum-Fälle im großen Rahmen gezielt aufzugreifen. Erforderlich wären konkrete Anweisungen der Landesfinanzministerien in Form von Ermittlungsschwerpunkten für die Steuerfahndung und die Betriebsprüfung sowie die Bereitstellung des erforderlichen Personals. Denn aufgrund der Komplexität der Geschäfte erfolgt deren Aufdeckung nicht mal eben bei Gelegenheit einer normalen Außenprüfung. Auch hat meine Erfahrung gezeigt, dass die beteiligten Banken die Aufklärung nicht gerade gefördert haben.
Wenn Sie sagen, dass Urteil und Schreiben eigentlich Anlass zur Aufklärung hätten geben müssen, meinen Sie, dass diese Aufklärung ausgeblieben ist?
Ja, bei der Aufdeckung von Cum-Cum-Geschäften passiert erkennbar so gut wie nichts und das ist ein Skandal. Allein die Höhe des Steuerschadens, der in die Milliarden geht, lohnt jeglichen Einsatz. Auch wird die Zeit langsam knapp, durch das erst kürzlich verabschiedete Bürokratieentlastungsgesetz, das die Aufbewahrungsfrist für Geschäftsunterlagen verkürzt, wird zwar kein merklicher Entlastungseffekt für die Wirtschaft erzielt, es droht jedoch die Vernichtung der zur Aufklärung der illegalen Geschäfte erforderlichen Beweismittel.Nach einer Umfrage der Bafin (Anm. d. Red.: Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht) aus 2021 wies eine Vielzahl von Banken bereits freiwillig Rückstellungen für Steuerrückzahlungen aus Cum-Cum-Geschäften in Höhe von etwa 5 Milliarden als offen aus. Warum setzt man hier nicht an und fordert die Steuermilliarden zurück? Unverständlich ist für mich auch, warum die Staatsanwaltschaften noch immer kein Cum-Cum-Verfahren angeklagt haben, wobei die strafrechtliche Relevanz für die Verantwortlichen durchaus auf der Hand liegt und auch in anderen Ländern, wie zum Beispiel in Frankreich, längst entsprechende Verfahren laufen.