Am Sonntag findet die Wahl zum Europäischen Parlament statt. Es droht eine historisch niedrige Wahlbeteiligung. Muss man als guter Demokrat trotz aller Kritik an Europa wählen gehen? Klar, findet Sebastian Christ, "die Wahl rockt". Florian Güßgen hält dagegen: "Nichtwählen heißt in diesem Fall Aufrütteln."
Wählen oder Nichtwählen - das ist für viele Bürger am Sonntag die Frage, wenn es um die Europawahl geht. Die deutschen Parteien haben die Auseinandersetzung um die besseren europapolitischen Konzepte nur mit wenig Leidenschaft geführt, vielen erscheint die Europäische Union und auch das Europäische Parlament immer noch unendlich weit weg. Was tun? Ist Nichtwählen überhaupt eine Option? stern.de-Redakteur Sebastian Christ argumentiert dafür, auf jeden Fall zur Wahlurne zu gehen. stern.de-Redakteur Florian Güßgen hält dagegen.
Pro | Contra | |
---|---|---|
Von Sebastian Christ Immer wieder treffe ich in diesen Tagen angeblich europainteressierte Menschen, die mit erhobener Nase und verschränkten Armen dastehen und in Richtung der Politiker sagen: "Meine Stimme müsst ihr euch erst einmal verdienen." Ich gehe dann meistens weiter und lasse diese Menschen in Ruhe weiter schmollen. Das ist wahrscheinlich ein Fehler. Ich sollte ihn an beiden Schultern packen und schütteln und rütteln. Es ist freilich eine alte Feststellung, dass man in einer Demokratie mit der eigenen Passivität nur die Aktivitäten seiner Konkurrenten stärkt. Sie ist deswegen nicht weniger richtig, egal wie man politisch denkt. Das gilt gerade bei einer Wahl, die in Sachen Beteiligung sehr viel Spielraum nach oben und unten offen lässt. Die Europawahl rockt, weil sie zum einen die Richtung für den Bundestagswahlkampf vorgibt, zum anderen, weil wegen der großen Zurückhaltung in der Bevölkerung eigentlich niemand so recht weiß, wie sie ausgeht. Jede Stimme gewinnt so an Gewicht. Beispiel eins: Wenn sich beispielsweise genügend links denkende Menschen dazu entschließen, am Sonntag wählen zu gehen, könnten sie dafür sorgen, dass die CSU den Sprung ins Europaparlament verpasst. Das wäre eine beinahe so laut krachende Niederlage wie die bei der Landtagswahl im vergangenen Herbst. Und das verlockende dabei: Weil die CSU bundesweit fünf Prozent erreichen muss, können diesmal Menschen in ganz Deutschland ihren Teil dazu beitragen, den Christsozialen aus Bayern eine reinzuwürgen. Beispiel zwei: Wer konservativ denkt, kann am Sonntag der Linken einen gehörigen Dämpfer im Krisenwahljahr 2009 verpassen. Und auch für alle Europaliebhaber ist es eine günstige Gelegenheit, mit einer Stimme für CDU, FDP, Grüne oder SPD die zum Teil mehr als einfach nur eurokritischen Tiraden der Linken abzustrafen. Europa würde gleich mehrfach von einer hohen Wahlbeteiligung profitieren. Zum einen würde die Arbeit des EU-Parlaments aufgewertet. Zum anderen wäre gewährleistet, dass radikale Protestwähler weniger Einfluss bekämen. Und nicht zuletzt ist das Demokratiedefizit innerhalb der EU ein Grund, wählen zu gehen. So paradox sich das auch anhören mag. Schließlich ist das Europaparlament eines der machtlosesten auf dem ganzen Kontinent. Die Abgeordneten haben schlicht keine Möglichkeit, eigene Gesetzesentwürfe einzubringen. Sprich: Sie können nicht selbst aktiv werden, um etwas zu verändern. Aber es war schließlich auch öffentlicher Druck, der dazu beigetragen hat, dass das EU-Parlament in den vergangenen Jahren schon einige Befugnisse bekommen hat. Das beste Druckmittel also, um Europa demokratischer zu machen, ist eine hohe Wahlbeteiligung. Welcher Regierungschef etwa könnte sich es noch leisten, den Ruf nach mehr Einfluss für die europäische Volksvertretung zu überhören, wenn im eigenen Land mehr Menschen das EU-Parlament wählen als das nationale Parlament? Aber dazu müssten genug Menschen erkennen, welche Chance sie am Sonntag haben. Es gilt: Für den einzelnen ist es nur ein ausgefüllter Zettel. Für Europa aber die Zukunft. | Von Florian Güßgen Natürlich gibt es gute Gründe, am Sonntag wählen zu gehen: Die Stimmabgabe gilt in einer Demokratie als heilig und Radikale sollen nicht jubeln dürfen. Alles schön und gut. Aber: Auch eine Nichtwahl ist eine legitime demokratische Willensbekundung. Und der Europawahl gibt es diesmal bessere Gründe dafür, zu Hause zu bleiben. Denn in der Europäischen Union (EU) läuft etwas grundsätzlich schief. Weil es hierzulande keine Referenden gibt, ist diese Wahl die einzige Möglichkeit der Bürger, ihren Protest zum Ausdruck zu bringen. Eine hohe Wahlbeteiligung würden Regierungen und Eurokraten als Bestätigung ihrer Arbeit verstehen. Was ist faul im Staate Europa? Die Politik ist unredlich. Den Bürgern wird immer noch vorgegaukelt, die EU könne so eine Art demokratischer Superstaat des ewigen Friedens werden. Dabei sind diese kühnen Träume in Wirklichkeit längst geplatzt. Spätestens seit der Erweiterung auf 27 Mitglieder ist die EU zu groß schlicht zu groß geworden, um noch so effektiv und effizient wie ein Staat entscheiden zu können. Die EU ist auf dem Weg der Re-Nationalisierung. Das Sagen haben die nationalen Regierungen, nicht das Parlament, auch wenn letzteres bei immer mehr Fragen mitentscheiden darf. Schlimm ist das nicht, denn die EU hat ihren Zweck übererfüllt. Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte sie für Frieden in Westeuropa, nach dem Kalten Krieg für Frieden in ganz Europa. Jetzt ist sie eben ein Staatenbund, der Mindeststandards für Markt und Demokratie festlegt und exportiert. So what? Es ist sinnlos, eine tiefere Daseinsberechtigung herbeizubeten. Schlimm ist, dass Bundes- und Europapolitiker immer noch von einem Parlament fantasieren, das in der EU eine ähnliche Machtposition erringen kann wie nationale Parlamente in die Mitgliedsstaaten. Zwar gehört diese Fantasie zum genetischen Code der politischen Kultur der Bundesrepublik - unredlich, rückwärtsgewandt und irreführend ist sie dennoch. Das Parlament wird zu etwas erklärt, was es nie sein kann. Der zweite Kardinalfehler von Regierungen und Eurokraten-Elite, eigentlich eine Unverschämtheit, besteht darin, dass sie ihre Politik der Bevormundung trotz aller wohlfeilen Beschwörungen von Bürgernähe fortsetzen. Als die Verfassung scheiterte, schuf man mit dem Lissabon-Vertrag ein unverständliches Textmonster im dreisten Bürokraten-Chinesisch. Aber einerlei. Denn als die Iren auch diesen Vertrag in die Tonne traten, entschied man, einfach noch einmal abstimmen zu lassen. Die EU ist ein Raumschiff geblieben ist, weit weg von den Bürgern. Noch dreister ist jedoch, dass die deutschen Parteien den Wählern nun einerseits wie Kindern erklären, sie müssten auch ja wählen gehen, weil sie sonst mindestens schlechte Europäer, auf jeden Fall aber schlechte Demokraten wären. Andererseits interessieren sie sich selbst aber kaum für Europa, sondern vor allem für die Auswirkungen auf die Bundestagswahl. Das kann man locker am müden Wahlkampf ablesen. Vor allem die Europa-Leidenschaft von Union und SPD ist fast schon hemmungslos geheuchelt. Weshalb sollten sich also die Bürger für Europa begeistern, wenn Sie das Institutionengeflecht von vorne bis hinten nicht verstehen? Zu einfach ist es also, die Entscheidung für eine Nichtwahl als Sündenfall in Sachen Demokratie hinzustellen. Sicher, es lässt sich schwer unterscheiden, wer aus Desinteresse daheimbleibt und wer es sich reiflich überlegt hat. Aber im Kern ist die Europawahl ein Referendum über die Europapolitik der Regierungen. Und hier muss sich grundsätzlich etwas ändern. Nichtwählen heißt in diesem Fall Aufrütteln. |