Alles scheint normal zu laufen. Am Boxeneingang quäkt eine Hupe. Das ist das übliche Signal für die Mechaniker, dass der Rennwagen, der kurz zuvor noch mit 320 km/h über die Piste fegte, gleich relativ gemächlich an die Box rollen wird. Nun muss das Mechanikerteam bereit sein zum Räderwechseln, zum Säubern der Windschutzscheibe, zum Spritnachfüllen oder auch, um für technische Probleme eine Lösung zu finden. Alles im Renntempo.
Südfrankreich, der Rennkurs Paul Ricard in der Nähe von Le Castellet. Audi hat sich hier zusammen mit dem langjährigen Partner Reinhold Joest für eine Woche eingemietet. Audi stellt den Rennwagen, die Technik, die Fahrer, einige Ingenieure, Joest den größten Teil der restlichen Mannschaft. Zusammen etwa 50 Leute, die bei der Generalprobe für das berühmte 24-Stunden-Rennen von Le Mans am 16. Juni üben. Alles dreht sich um den neuen Rennwagen R18 e-tron quattro. Innerhalb dieser Woche muss das Auto einen 30-Stunden-Härtetest in Etappen bestehen.
Soweit, so normal. Weniger normal ist, dass das Team ungewöhnlich aufmerksam wirkt, als der Wagen stoppt. Es scheint so, als sind einige Personen dazu abgestellt, nach Fremden Ausschau zu halten. Steht irgendwo ein Spion von der Konkurrenz, der die Besonderheit des Autos ausspähen will? Zu sehen ist allerdings nichts, denn das Besondere sitzt versteckt unter einer Abdeckung links neben dem Fahrer.
Energiespeicher im Schwungrad
Das Besondere ist ein Schwungrad-Hybridsystem, mit dem elektrische Energie vorübergehend gespeichert und blitzschnell wieder abgegeben werden kann. Das erklärt den Begriff "e-tron" im Namen. Bereits in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde mit diesem Antrieb in Bussen experimentiert. Audi hat nun zusammen mit der britischen Technikschmiede Williams eine Hightech-Version fertig, die nicht nur für den Motorsport gedacht ist. Laut Audi wird "diese Technologie auch für einen zukünftigen Serieneinsatz entwickelt".
Damit ist nicht nur die Art der Stromspeicherung gemeint. Es geht auch um die Zukunft des Allradantriebs (Quattro). Der muss leichter werden, um Sprit zu sparen. Möglichst ohne eine schwere Kardanwelle von vorne nach hinten. Da kann das Schwungradsystem mit den dazu gehörenden drei Elektromotoren womöglich helfen. Es wiegt es nach Angaben von Audi nur 100 Kilogramm. Jedenfalls die Version im Rennwagen.
Als sich das Vorhaben in der Motorsportszene herumgesprochen hatte, Audi wolle mit einem leichten und speziellen Elektroallradantrieb in Le Mans starten, um dort zum 11. Mal zu gewinnen, keimte bei der Konkurrenz sofort die Frage: Erfüllt das System das Reglement? Denn permanenter Allradantrieb ist in der Langstrecken-WM verboten. "Deswegen haben wir den Teilzeit-Allradantrieb erfunden", sagt Audi-Motorsportchef Wolfgang Ullrich und grinst. Er weiß, dass damit die Grenze des Erlaubten erreicht ist. "Das System ist regelkonform. Wir haben es prüfen lassen."
Kraft für fünf Sekunden
Der Teilzeit-Allradantrieb funktioniert so: Bremst der Fahrer, arbeiten die zwei Elektromotoren an der Vorderachse als Dynamos und erzeugen Strom, mit dem im selben Moment der dritte E-Motor das Schwungrad auf 45000 Umdrehungen pro Minute bringt. So wird elektrische Energie in Bewegungsenergie umgewandelt und vorübergehend gespeichert. Gibt der Fahrer wieder Gas, läuft die Chose umgekehrt. Im Bruchteil einer Sekunde schaltet der Schwungradmotor auf Dynamobetrieb um und verwandelt die Rotation, wie beim Fahrrad, in Strom. Der treibt die E-Maschinen an den Vorderrädern mit je 100 PS an. Nach fünf bis sieben Sekunden jedoch ist der Energiespeicher leer und das Auto fährt wieder nur mit Hinterradantrieb. Bis zur nächsten Kurve.
Beim Test in Le Castellet zeigt sich Profi Marcel Fässler sowohl vom Leistungszuwachs als auch vom Plus an Fahrstabilität durch die Allradtechnik beeindruckt. Der Schweizer Rennfahrer, einer der Piloten die für Audi in Le Mans am Lenkrad sitzen, sagt: "Wir Rennfahrer können ja nie genug Leistung haben. Aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Das System wirkt wie ein Turbolader auf die Vorderräder und hat einen enormen Zug."
Bei der Generalprobe auf dem 3,8 Kilometer langen Kurs von Paul Ricard läuft der Wagen seit Stunden wie ein Uhrwerk. Das blitzschnelle Laden und Entladen des Energiespeichers funktioniert reibungslos. Und das Auto wird immer schneller. Im Heck schieben die 510 PS des V6-Turbodiesels auf der Hinterachse, vorne ziehen die 200 Teilzeit-PS. Rasch sinkt die Rundenzeit des R18 e-tron quattro von 1:37,4 Minuten zu Anfang auf schließlich 1:34,3 Minuten. Probleme gibt es keine. Wenngleich ein höherer Verschleiß der Vorderreifen registriert wird, was dem Allradantrieb geschuldet ist. Womöglich hilft später in Le Mans eine härtere Gummimischung.
Marcel Fässler steigt nach einem Turn aus. Er scheint zufrieden zu sein. Ob er eine Vorstellung davon hat, welchen Zeitvorteil das neue System in Le Mans bringen kann? Er grinst und sagt: "Ich schätzte, dass wir pro Runde etwa eine halbe Sekunde schneller sein müssten als die Konkurrenz. Ich bin sicher, dass Audi den genauen Wert ausgerechnet hat. Ich bin aber auch sicher, dass man den uns Rennfahrern nicht sagt, weil wir uns darauf nicht ausruhen sollen."