Beim Frühstück war Sophie noch mit dabei, hin und her gerissen zwischen dem leckeren Brötchenduft und dem Ärgernis, gemeinsam mit den Erwachsenen an einem Tisch sitzen zu müssen. Sophie ist Teenager, 12 Jahre alt. Das ist so das Alter, wo man mit den Eltern noch halbwegs kann - aber bitte nur nicht zu lange am Stück. Und so dauerte es auch gar nicht lange, und Sophies Stuhl war leer.
Uns Erwachsenen fiel das nicht weiter auf. Wir hatten uns mit Sophies Eltern zum Frühstück und zum Klönen verabredet. Da gab es die neuesten Scheidungen und Affären durchzuhecheln: Beim Klatschen und Tratschen vergeht die Zeit wie im Flug. Bis wir bemerkten, dass unsere Kinder ebenfalls verschwunden waren. Meine Frau bedeutete mir mit einem kurzen Blick, doch einmal nach den Kids zu schauen. Wie Frauen es nur schaffen, so viele Informationen in einen Blick zu legen! Ihr Blick erinnerte mich jedenfalls daran, dass Sophie bereits das "Texas Chainsaw Massacre" sehen durfte. Und "Resident Evil". Nicht, dass sie gerade den DVD-Player anwarf und sich das neueste Blutmassaker reinzog, während unsere sechs und acht Jahre alten Kinder, die bereits bei jedem Disney-Film Alpträume bekommen, schockgebleicht zuschauen!
"Das habe ich adoptiert", sprach die 12-Jährige
Ich trennte mich von meinem Brötchen und spurtete die Treppen hoch. Sophie war nicht in ihrem Zimmer, sondern noch eine Reihenhausetage höher - im Computerzimmer. Hier hockte sie vor dem Rechner, flankiert von meinen Kids, die verbissen auf den Bildschirm starrten. Dort lief zum Glück kein Gewalt-Epos, sondern das Spiel "Die Sims 2". Fasziniert blieb auch ich stehen. Man konnte in das 3D-Haus einer winzigen Familie hineinschauen. Zwei Sims frühstückten hier gerade, ein anderer duschte. Ein Auto hielt vor dem Haus und brachte ein Kleinkind. "Habe ich gerade adoptiert", murmelte Sophie. "Das letzte haben sie mir weggenommen, weil ich mich nicht drum gekümmert habe." Meine Kinder himmelten Sophie an wie einen spirituellen Guru, während ich mir insgeheim überlegte, ob ich meinen Nachwuchs in der Nähe einer solchen Rabenmutter lassen durfte. Aber Linus und Alisa krallten sich an Sophies Ellenbogen fest, während im Herd der Familie auf einmal Feuer ausbrach. Während der Rauch die Sicht vernebelte, rückte auf dem Bildschirm auch schon die Feuerwehr mit großem Tatütata an. Linus drehte sich zu mir um: "Das wollen wir zu Hause auch spielen."
Der Alte ist zu langsam
Die ganze Heimfahrt über gab es im Auto nur ein einziges Thema: die "Sims". Zum Glück wusste ich, dass ich das Spiel bereits zu Hause hatte - ein Testmuster lag noch auf unserem Eingangstisch im Redaktionskeller. Nur so konnte ich die Kinder überhaupt von Sophie weg ins Auto locken. Kaum zu Hause angekommen, musste ich das Spiel auch schon installieren. Mein Gott, so viele CDs, so viele Gigabyte. Ich schwadronierte vor meinen Kindern über Speicherplatzverschwendung, während sie nur die Augen verdrehten und sichtbar der Meinung waren, dass der Alte zu dumm dazu war, das neue Spiel in vertretbarer Zeit zu installieren. Dann endlich war es so weit. "Ich will zuerst spielen", grölte Alisa und piekste Linus mit einem Finger ins Auge. "Tschuldigung", rief sie und sprang auf den Schreibtischstuhl, während Linus noch um die eigene Achse torkelte. Dann griff sie zur Maus und klickte rein prophylaktisch auf jeden einzelnen Pixel auf dem Schirm.
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Nach fünf Minuten kam dann die Einsicht: "Papa, wie geht das denn?"
Linus lachte: "Das kommt davon, wenn man noch nicht lesen kann." Und: "Lass mich mal."
Doch auch Linus fand nicht heraus, wie man sich ein Haus zulegt, die eigene Familie einziehen lässt oder die virtuellen Sims dazu bringt, irgendetwas Sinnvolles zu tun. Ich hatte bereits das Handbuch durchgeblättert und es dabei ein wenig quer gelesen. Ich verstand aber leider auch nur Bahnhof.
Da machten die Kinder auch schon bereitwillig Platz und klopften den Staub von der Sitzplatte des Schreibtischstuhls: "Papa, mach du doch mal."
Mit viel Mühe gelang es mir, uns ein virtuelles Haus zu sichern und eine vom Programm vorgegebene Familie darin zu platzieren. Vorher hatten wir gemeinsam Möbel ins Haus gestellt und Vorhänge aufgehängt. Anschließend ließ ich meine Sims blödsinnige Sachen machen - wie Witze erzählen oder tanzen. Die Kinder schauten nicht sonderlich begeistert. Wahrscheinlich sah das bei Sophie alles souveräner aus.
"Wir wollen einen Pool im Garten, Papa", sagt Alisa. Und Linus spricht aus, was seine Schwester denkt: "Sophie hatte auch einen". "Einen großen". Das war wieder Alisa.
Mir brach der kalte Schweiß aus. Ich schaffte es irgendwie, einen Kaktus und eine Palme in den Garten zu stellen. Aber wo um alles in der Welt gab es im Spiel denn einen Pool, den man verbauen konnte?
"Und ein adoptiertes Baby wollen wir auch."
Ich täuschte einen Absturz vor, ließ den Bildschirm schwarz werden und tröstete die Kinder: "Wisst ihr, der Computer muss sich jetzt erst mal ausruhen." Während die Kinder zur Mutter rannten, um zu petzen, beschloss ich, heimlich das Handbuch zu lesen. Und zu unseren Freunden fahren wir nur wieder frühstücken, wenn Sophie nicht da ist.
Eine Glosse von Carsten Scheibe, Typemania