Vergangenen Dienstagabend, kurz nach 18 Uhr. Ich hatte gerade Feierabend und saß in der U-Bahn auf dem Heimweg. Ich war in meine Zeitschrift vertieft, als eine junge Frau einstieg. Blonde Haare, lässiger Style, Typ Berlin-Kreuzberg – ich mach‘ Fotos von Street Art und interessanten Leuten (Passage aus Kraftklubs Song "Ich will nicht nach Berlin"). Sie holte ihr Handy aus ihrer Bauchtasche und fing an, Sprachnotizen zu versenden. Nicht eine, sondern Dutzende.
Das tat sie in einer Lautstärke eines Marktschreiers. Jedenfalls empfand ich es so – und auch viele andere Fahrgäste im Waggon. Ich sah es an ihrer Mimik. Sie runzelten die Stirn, verdrehten die Augen oder zogen genervt die Augenbrauen nach oben. Währenddessen erfuhr man, wann sich die Frau mit wem, wo, warum trifft, und warum jene Person nicht käme. Spätestens jetzt wusste ich, wie sich wohl NSA-Mitarbeiter fühlen, wenn sie mal wieder ein Smartphone eines durchschnittlichen Bürgers anzapfen. Mit dem entscheidenden Unterschied: Ich wollte nicht mithören – ich musste.
Deshalb wurde mit jeder neuen Silbe, die ihre Lippen verließ, der Drang stärker, ihr zu sagen, dass sie gefälligst schreiben soll. Doch ich ließ davon ab. Aus zwei Gründen: Ich hatte Feierabend und keine Lust auf eine Konfrontation, bei der die Gefahr groß war, das sie in einer längeren Diskussion enden könnte. Viel wichtiger: Ich bin befangen!
Denn ich hasse Sprachnachrichten. Abgrundtief! Ich verabscheue diese Form der Kommunikation. Es ergibt für mich keinen Sinn, eine Nachricht, die man auch schriftlich verfassen kann, in einem nicht enden wollenden minutenlangen Monolog zu übermitteln. Aber warum machen es die meisten trotzdem?
Warum verschicken wir überhaupt Sprachnachrichten?
In meiner Fußballmannschaft habe ich einen Mitspieler, der fast ausschließlich in Sprachnachrichten antwortet. Dabei spielt es keine Rolle, ob er eigentlich nur mit einem Ja oder Nein antworten könnte. Als ich ihn einmal etwas zynisch fragte, ob er das Schreiben verlernt habe, entgegnete er mir: "Digga, is‘ doch viel entspannter. Kurz labern. Fertig!" Übersetzt heißt das: Er hat keine Lust, sich darüber Gedanken zu machen, was er einem genau mitteilen will. Stattdessen zieht er das Mikrofonsymbol mit einer Fingerbewegung bei Whatsapp nach oben – und spricht einfach drauflos. Aus einem Ja wird plötzlich eine 30-sekündige Sprachnachricht.

Dass er dabei völlig opportunistisch handelt, weil er damit dem Empfänger seiner Nachricht unnötig Lebenszeit raubt, wenn dieser das Handy ans Ohr halten muss, um die Notiz abzuhören, ist ihm völlig egal. Hauptsache er kann schnell antworten – am besten noch, während er sich nebenbei einen Döner reinzieht oder eine Zigarette anzündet. Jener Egoismus des Einzelnen steht sinnbildlich dafür, wie faul ein Teil der Gesellschaft in der alltäglichen Kommunikation geworden ist. Alles getreu dem Motto: Hauptsache einfach und schnell.
Zumal die eigentlichen Probleme damit erst anfangen. Der Absender der Nachricht gerät während der Aufnahme ins gedankliche Delirium. Er redet, aber vergisst schnell, was er eigentlich sagen will. Für den Empfänger bedeutet das: Er kriegt eine Audionachricht mit viel Gelaber, aber wenig Inhalt. Im Freundeskreis hat jeder so eine Person. Man fragt, wie ihre Woche so gewesen sei, und bekommt daraufhin eine fünfeinhalbstündige Sprachnachricht geschickt.
Sobald man auf Play gedrückt hat, wird die eigene Not mit jeder vergangenen Sekunde größer. Eine Information folgt auf die andere, teilweise gibt es zeitliche und gedankliche Sprünge und am Ende hat man meist vergessen, was der Absender alles gesagt hat. Man steht vor einem Dilemma: Hört man sich die Audionachricht noch einmal an – und versendet stückchenweise schriftliche Reaktionen auf das Gesagte? Oder: Verschickt man selbst eine Sprachnachricht, verstößt gegen seine Prinzipien, weil man glaubt, dadurch Zeit zu sparen?
Egal, wie man sich entscheidet, am Ende kostet die Konversation unnötig Lebenszeit. Das erste Szenario führt dazu, dass der Absender auf jede deiner Stückchen-Reaktionen mit einer Sprachnachrichten antwortet. Damit nehmen diese im Verlauf der Unterhaltung exponentiell zu. Und bei letzterem endet alles in einem Sprachnachrichten-Wirrwarr, indem irgendjemand in einer Nachricht sagt: "Yo, ich muss noch einmal hören, was du gesagt hast. Warte." Darauf wiederum folgen fünf weitere.
Sind Sprachnachrichten viel persönlicher?
Wie ihr merkt, habe auch ich des Öfteren Sprachnachrichten verschickt. Doch jedes Mal fühle ich mich anschließend wie ein Fernsehzuschauer, der dem Wendler dabei zusieht, wie er mit seiner 19-jährigen Freundin herumknutscht. Aber was soll’s? Man kann es nicht ändern. Meine Freundin sagte mir neulich, nachdem ich ihr wieder einmal in einem ausufernden Monolog erzählte, wie sehr ich Sprachnachrichten hasse, dass sie mein Empfinden nicht nachvollziehen könne. "Du, ganz ehrlich: Ich finde Sprachnachrichten viel persönlicher. Wenn ich mit meinen Freundinnen nicht telefonieren kann, sind diese ein schöner Ersatz. So kann ich wenigstens ihre Stimmen hören."
Für eine Sekunde gab ich mich mit dieser Begründung zufrieden. Dann erinnerte ich mich allerdings an einen Moment, als sie viermal eine Sprachnachricht neu aufnahm. Sie hatte sich immer wieder versprochen. Das Problem, sie musste am Anfang jedes Mal über eine witzige Anekdote ihrer Freundin lachen. Mit jedem neuen Versuch wurde ihr Lachen unnatürlicher. Das wäre ihr nicht passiert, wenn sie einfach nur "Haha" geschrieben hätte.