Estland Handys raus! Es ist Parlamentswahl!

Von Sebastian Wieschowski
Wenn im nördlichsten baltischen Staat 2011 ein neues Parlament gewählt wird, werden manche Bürger Estlands ihre Handys benutzen. Das Telefon ist dann als zusätzlicher Identitätsnachweis bei der Wahl per Computersystem zugelassen.

Die Esten sind ein fortschrittliches Völkchen. Seit Jahren weist das baltische Land die höchste Dichte an Internetzugängen und Mobiltelefonen auf. Überall in Estland gibt es WLAN-Hotspots, sogar "ganz weit draußen" auf dem Land. Und wer keinen eigenen Computer hat, darf öffentliche Terminals in Postämtern, Büchereien oder Dorfläden nutzen. Den Standort des nächsten Internet-Zugangspunktes zeigt ein eigenes Straßenverkehrsschild an. Egal, wie heruntergekommen ein Stadtteil sein mag, irgendwo ist immer das schwarze "@" auf weißem Grund mit blauem Rahmen zu sehen.

Jetzt wagt Estland ein Experiment, das den Innovationsvorsprung des Landes bei in Europa stärken könnte: Das Parlament ("riigikogu") hat ein Gesetz verabschiedet, das die Stimmabgabe bei der nächsten Parlamentswahl 2011 auch per Mobiltelefon erlaubt. 80 von 101 Abgeordneten votierten für die Handy-Wahl - eine für estnische Verhältnisse außergewöhnlich eindeutige Wahl, zumal im Parlament sechs Parteien vertreten sind. Proteste von Datenschützern oder Bürgern blieben - wie auch schon bei der Einführung der Wahl via Internet vor drei Jahren -weitgehend aus. "Die Pläne dafür hat es Seit Ende 2007 gegeben", berichtet Hannes Astok, Parlamentsabgeordneter der liberalen Reformpartei ("Eesti Reformierakond") im Gespräch mit stern.de. Mehrere Monate lang habe eine unabhängige Sicherheitskommission das System getestet und keine Bedenken geäußert. Der Abgeordnete rechnet mit Kosten um 1,5 Millionen Euro.

Identifizierung per Sim-Karte

Bevor sie an der Handy-Wahl teilnehmen können, müssen die Esten zuerst eine spezielle Sim-Karte besorgen. Die kostenlosen "Mobile ID"-SIM-Karten sind in allen Geschäften des größten estnischen Mobilfunkanbieters EMT erhältlich. Dort muss der Kunde seinen Personalausweis vorzeigen. Er erhält die neue Sim-Karte sowie zwei Persönliche Identifikationsnummern (Pin). Mit der ersten Pin schaltet er seine mobile ID frei, die zweite fungiert als digitale Signatur. Die Identität des Wählers soll mittels eines auf der Sim-Karte des Mobiltelefons aktivierten persönlichen Sicherheitscodes technisch gewährleistet werden. "Bei der Stimmabgabe ist weiterhin der Computer nötig, aber Sie haben jetzt beim Identitätsnachweis die Wahl zwischen Ihrem Personalausweis plus Kartenlesegerät oder dem Mobiltelefon", erklärt Hannes Astok.

Bereits vor knapp zwei Jahren hatte die estnische Regierung - sie hält seit dem Jahr 2000 in unregelmäßigen Abständen Kabinettssitzungen auch online ab - europaweit für Schlagzeilen gesorgt, als sie die elektronische Stimmabgabe bei einer Parlamentswahl erlaubte - als erstes Land der Welt. Der Personalausweis im Kreditkartenformat muss bei der Internetwahl in ein Kartenlesegerät geschoben werden. Die Plastikkarte ist darüber hinaus längst zum Alltagsgegenstand geworden: Auf dem integrierten Chip können Esten beispielsweise ihre Monatskarte für den Bus speichern. 1,03 der rund 1,34 Millionen Esten verfügen über den elektronischen Personalausweis.

Nur ein Zusatz

Beim ersten Testlauf der Internetwahl während der estnischen Kommunalwahl im Jahr 2005 gaben rund zwei Prozent der Wähler ihre Stimme via Internet ab. Bei der landesweiten Parlamentswahl zwei Jahre später stieg der Anteil auf 6 Prozent. Und estnische Politiker glauben fest an einen Erfolg der neuen Handywahl: "Meine persönliche Schätzung geht von 20 Prozent der Stimmen aus, die auf elektronischem Wege abgegeben werden. Ein Drittel davon wird via Mobiltelefon abgewickelt", sagt der "Riigikogu"-Abgeordnete Hannes Astok. Allerdings beabsichtigt Estland vorerst nicht, die herkömmlichen Wahlformen abzuschaffen: "Die Internetwahl ist nur ein Zusatz zur eigenhändigen Stimmabgabe in der Wahlkabine. In absehbarer Zeit ist nicht geplant, bestehende Wahlformen zurückzufahren", sagt Astok.

Ganz neu ist die estnische Idee nicht. Elektronische Abstimmungen via SMS wurden bereits 2005 in der Schweiz getestet. Laut einer Studie des Instituts für Direkte Demokratie der Universität Zürich haben jedoch nur vier Prozent der Wahlberechtigten diese Option zur Stimmabgabe genutzt. Die Wahl per Handy sei eine anspruchsvolle Übung und ungewohnt, hieß es damals. Schwer taten sich die Wähler insbesondere mit dem Panaschieren, Kumulieren und Streichen in den Wahllisten - nur wenn die Liste nicht verändert wurde, sei die Wahl per Handy einfach. Die SMS-Abstimmungsmöglichkeit wurde seither im Kanton Zürich nicht mehr angeboten.

Einen Misserfolg wie in der Schweiz erwartet der "Riigikogu"-Abgeordnete Hannes Astok jedoch nicht: "Die Esten begeistern sich sehr stark für moderne Wege, ihren Alltag angenehm und einfach zu gestalten", sagt Astok. Bereits heute würden 99 Prozent aller Banktransaktionen und 89 Prozent aller Steuererklärungen über das Internet erledigt. "Da ist es mehr als normal, dass man auch auf elektronischem Wege wählen kann", findet der Reformpartei-Politiker. Ein weiterer Grund für den "E-Voting"-Erfolg sieht Astok in der Geschichte seiner Heimat: "Wir sind mehr als stolz auf unser kulturelles Erbe. Aber die Wahlkultur wurde von der Sowjetzeit unterbrochen, die Wahlergebnisse gefälscht. Wir sind froh, dass diese Zeit vorbei ist, und deshalb in Bezug auf Wahltradition ein sehr offenes Land."

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