Nervös hält Ajay Ghale, Protagonist des Ego-Shooters "Far Cry 4", die Urne seiner Mutter in den Händen. Er sitzt in einem Bus auf dem Weg nach Kyrat, einer abgelegenen Region des Himalaya-Gebirges. Der letzte Wunsch seiner verstorbenen Mutter war es, dass Ajay ihre Asche in ihrer einstigen Heimat verstreut. Plötzlich stoppt der Bus. Zollkontrolle. Ajay blickt aus dem Fenster und sieht, wie einige der Insassen mit den Grenzlern verhandeln. Dann eskaliert die Situation. Schüsse fallen, Glas splittert, Menschen schreien. Im letzten Moment flüchtet sich Ajay durch das Heckfenster des Busses, bekommt aber sogleich einen Gewehrkolben zu spüren. "Das war's dann wohl", denkt er sich noch, als er in den Lauf einer AK-47 blickt. Aber der Soldat drückt noch nicht ab.
Ein lautes Dröhnen kündigt die Ankunft eines Hubschraubers an. Ihm entsteigt Pagan Min, Despot und Drogenbaron von Kyrat. Lässig streicht er sich seine blonde Tolle zurück, rückt den pinken Anzug gerade. Er tritt dicht an den Grenzposten heran und flüstert ihm ins Ohr: "Ich habe eine einfache Anweisung gegeben. Stoppt den Bus. Nicht: Beschießt den Bus. Ist das so schwer?" Im nächsten Moment zieht Min einen kurzen, goldenen Dolch aus der Tasche und fällt über seinen Mitarbeiter her. "So ein Mist. Jetzt habe ich Blut auf meinem Anzug. Sieh mich an! Ich habe Blut auf meinem Anzug!", brüllt Pagan Min Ajay Ghale verrückt entgegen.
Wahnsinn liegt in den Genen der Shooter-Serie "Far Cry": Bereits im dritten Teil drifteten Spieler in die wirren Gedankenwelten des Psychopathen Vaas ab und trieben sich in durch von "Alice im Wunderland" inspirierten Drogenträumen herum. Trotzdem wischt Alex Hutchinson, Produzent von "Far Cry 4", mögliche Parallelen zwischen Pagan Min und Vaas vom Tisch: "Hoffentlich steckt nicht zu viel Vaas in unserem neuen Bösewicht. Pagan Min ist nicht einfach nur verrückt. Er beherrscht Kyrat. Er hat so viel Macht, dass er keinerlei Konsequenzen fürchten muss. Und genau darum geht es in unserem Spiel: Um Kontrolle und Macht."
Genie und Wahnsinn
Gespielt wird Pagan Min von Troy Baker. Eben jenem Schauspieler, der unter anderem bereits in Spielen wie "inFAMOUS: Second Son" oder "The Last of Us" Charaktere zu digitalem Leben erweckte. Die deutsche Synchronisation übernahm der Schauspieler und Sprecher Thorsten Michaelis, deutsches Organ von Stars wie Wesley Snipes, Sean Bean oder Benicio del Toro.
Der Aufwand hat sich gelohnt: Die Entwickler von Ubisoft kreieren durchtriebene Charaktere, die zugleich faszinieren, aber auch abschrecken und geradezu anwidern. Beispielsweise der Opium-Großhändler Paul Depleur. Ein scheinbar sympathischer Typ, der mit seiner Tochter Ashley telefoniert, während er Geiseln ausraubt oder Leichenteile in Säure auflöst.
Pagan Min selbst ist ein machtbesessener Bilderbuch-Psychopath. Ganz Kyrat zittert vor ihm und seiner Wut. Abgesehen von einigen mutigen Rebellen, die sich gegen den Tyrannen stellen und erbitterten Widerstand leisten. Ajay Ghale gerät zwischen die Fronten: Seine Eltern führten einst den Goldenen Pfad – so der Name des Rebellenverbundes – an. Sein Name hat also Gewicht, und genau deshalb versuchen die Anführer, Ajay auf ihre Seite zu ziehen.
Immer wieder gerät man in die moralische Zwickmühle: Folgt man Amita und ihren aggressiven, aber durchaus nachvollziehbaren Plänen? Oder doch lieber Sabal, der salbungsvoll die alte Philosophie Kyrats am Leben zu erhalten versucht? Der Spieler bestimmt innerhalb der 32 Hauptmissionen seinen eigenen Weg durch die Geschichte und verändert Aufgaben und Spielwelt gleichermaßen.
Bekannte Ideen – jetzt mit Team-Modus
Ähnlich wie schon in "Assassin's Creed: Unity" öffnet sich auch "Far Cry 4" nach wenigen Stunden Spielzeit. Dann bereist Ajay Ghale ganz Kyrat. "Unsere Spielwelt ist etwa so groß wie die aus 'Far Cry 3'. Allerdings ist sie stärker durch Vertikalität geprägt. Die Kulisse des Himalayas erlaubte es uns, mit diesen Mitteln zu spielen. So steigt Ajay beispielsweise mit Kletterhaken an steilen Wänden hinauf, kann aber auch mit Drachenfliegern oder dem neuen Wingsuit zurück ins Tal gleiten. Genauso gut findet man versteckte Bergseen oder Höhlen in Kyrat", führt Alex Hutchinson diesen Punkt aus.
Trotzdem merkt man "Far Cry 4" an, dass Ubisoft keine Risiken eingehen wollte; viele Aufgaben fühlen sich genauso an wie im Vorgänger. Ajay steigt etwa auf so genannte Glockentürme, deaktiviert dort Pagan Mins Propagandasender und schaltet die Kartenfunktion in der jeweiligen Region frei. Ebenfalls bekannt ist das Erobern von Lagern und Forts. Übernimmt die Rebellion solche Stützpunkte, verliert Mins Royale Army dort an Macht und Einfluss. Die Konsequenz: Die Straßen sind sicherer, und es patrouillieren keine feindlichen Truppen mehr in der Gegend.
Der neue Koop-Modus ergänzt nun die Nebenaufgaben: Auf Tastendruck schließen sich Online-Freunde zusammen und können alle Nebenmissionen von "Far Cry 4" gemeinsam knacken. Kampagnenaufträge sind von diesem Team-Modus allerdings ausgeschlossen. Doch gerade besagte Lager sind mit zwei Spielern keine Herausforderung mehr. Lautlose Geiselrettungen oder gar das Einnahmen der vier in Kyrat stationierten Forts fallen da schon spaßiger aus. Käufer der Playstation-Versionen von "Far Cry 4" erhalten zudem zehn sogenannte "Schlüssel zu Kyrat" und laden so Gäste, die Far Cry 4" nicht besitzen, für zwei Stunden zum Probespielen ein.
Ein Käfig voller Tiere
Obwohl sich "Far Cry 4" in vielen Teilen wie sein Vorgänger spielt, gelingt es dem Shooter dennoch, erneut eine glaubhafte und vor allem lebendige Welt zu erschaffen. Kyrat ist gezeichnet von Pagan Mins Terrorherrschaft – ganz egal, ob nun Drogen- und Waffentransporte durch die Straßen ziehen oder Wachleute einzelne Geiseln abführen. An diesen Stellen greift das Karma-System: Hilft Ajay gefangenen Rebellen, rettet sie vor angriffslustigen Tieren oder vollführt buddhistische Rituale, steigt sein Karma. Auf diese Weise verdient er Verstärkungen für den Goldenen Pfad und kann sich für Nebenmissionen durch Rebellenkollegen verstärken lassen. Diese Computer-Soldaten agieren zwar nicht sonderlich clever, sind aber eine willkommene Ablenkung für überambitionierte Wachleute.
Ein besonderes Lob verdient sich "Far Cry 4" aber für seine Tierwelt. Diese ist nun weit mehr als nur purer Ressourcenlieferant für Ausrüstungsverbesserungen. Vielmehr darf der Spieler Tiger, Honigdachse, Wölfe und Wildhunde als taktisches Mittel einsetzen, das im Kampf mit vielen Feinden den Unterschied ausmachen kann. Mit Ködern lockt Ajay nämlich Raubtiere in feindliche Lager und sorgt so für ordentlich Tumult. Die Wachleute greifen den ungebetenen Gast sofort an und lassen somit ihre Verteidigung schleifen. Aber Vorsicht: In der Testversion attackierten aus Käfigen befreite Tiger und Bären den "Far Cry 4"-Helden augenblicklich, sofern er keinen Köder auswarf. Außerdem hielten selbst kleine Honigdachse sehr viele Schüsse aus, ehe sie das Zeitliche segneten. Hier wirkte das Verhalten und die Spielbalance der Fleischfresser noch ein wenig unausgegoren.
Die Krone der Schöpfung stellen allerdings die Elefanten dar: Einmal gereizt, stoppt sie nur ein Schuss aus der Panzerfaust. Ansonsten trampeln sie im Alleingang ganze Lager nieder. Ajay kann sogar auf den Dickhäutern reiten und teilt dann mit Rüssel- und Rammangriffen mächtig aus. Hier sorgt die Spielphysik von "Far Cry 4" jedoch für unfreiwillig witzige Momente: Gelegentlich fliegen geprügelte Soldaten oder Fahrzeuge arg übertrieben weit durch die Luft. Das sieht lustig aus, beraubt "Far Cry 4" aber seiner Ernsthaftigkeit.
Ein Faktor, der auch bei der Entwicklung nicht zu unterschätzen ist: "Tatsächlich kann man nur auf Elefanten reiten. Natürlich wäre es cool, einen Tiger, einen Bären oder ein Panzernashorn zu satteln… aber es wäre auch ein wenig albern und sähe im Koop-Modus für den anderen Spieler vermutlich dämlich aus. Irgendwo mussten wir auch eine Grenze ziehen", erklärt Alex Hutchinson im Gespräch.
Wer hat hier Höhenangst?
Abseits der Hauptgeschichte liefert "Far Cry 4" eine Fülle skurriler Nebenfiguren und Extra-Aufgaben. Letztere sind wichtig, um Ajays Fähigkeiten in den Technik-Bäumen Elefant und Tiger aufzuwerten. Da wären beispielsweise die wirren Ausflüge in die mystische Welt von Shangri-La. Hier kontrolliert der Hauptcharakter als Buddha-Krieger einen eigenen Geistertiger. Schön auch das erste Treffen mit der extremen Priesterin Noore: Sie lässt Ajay kurzerhand von ihren beinahe nackten Gehilfinnen in eine Arena sperren, wo sich der Auserwählte wie ein Gladiator – ohne Hemd und Hose – beweisen muss.
Seinem Himalaya-Setting zollt "Far Cry 4" in gleichnamigen Bergeinsätzen Tribut. Wagt sich Ajay auf die Gipfel des Gebirges vor, muss er sich vor Unterkühlung und Höhenkoller in Acht nehmen. Nur wenn er regelmäßig Ladungen für sein Atemgerät bekommt, überlebt er hier. Vorausgesetzt, er wird nicht Opfer eines Schneesturms oder einer Lawine.
Grundsätzlich lässt einem "Far Cry 4" viele Freiheiten. Ballern wie Schleichen ist möglich, weshalb das Spiel stark an den Vorgänger erinnert. Gerade Forts oder größere Lager sollte man mit Bedacht angehen und erst mit der Kamera auskundschaften. Im Vergleich zum Shooter-Mitbewerber "Call of Duty: Advanced Warfare" spielt sich "Far Cry 4" einen Tick behäbiger. Dadurch erzeugt es aber ein intensives Gefühl der Körperlichkeit: Ajay ächzt und schnauft unter den körperlichen Strapazen; bei Treffern verschwimmt die Sicht so stark, dass man kaum noch geradeaus schauen kann.
Fazit: Neues Spiel, alter Spaß
"Far Cry 4" geht keine Risiken ein: Bekannte Spielelemente – offene Spielwelt, unzählige Nebenaufgaben, psychotische Charaktere – werden hier in die Höhen des Himalaya transportiert. Das eigentliche Spielgefühl ähnelt dem des dritten Teils, was Kenner der Serie vielleicht enttäuschen mag. Allerdings motiviert das grundlegende Konzept von Sammeln, Kämpfen und Erkunden auch weiterhin. Der integrierte Koop-Modus ist eine sinnvolle Ergänzung und steht den vielen Nebenmissionen gut zu Gesicht. Ubisoft liefert mit "Far Cry 4" einen blitzsauberen Open-World-Shooter für Erwachsene ab, bei dem die ganz großen Überraschungen leider ausbleiben.
Far Cry 4
Hersteller/Vertrieb: | Ubisoft / Ubisoft |
Genre: | Ego-Shooter |
Plattform: | PC, Playstation 3, Playstation 4, Xbox 360, Xbox One |
Preis: | 59,99 Euro |
Altersfreigabe: | Ab 18 Jahren |