Sie sehen aus wie eine Hofgarde aus dem 19. Jahrhundert in ihren roten Uniformjacken mit den silbernen Passen, unter ihren Helmen sind die Schüler kaum zu unterscheiden. Wer auf dem Foto Peter Mössner sucht, braucht eine Weile bis er ihn in der vierten Reihe, Mitte, entdeckt: Er ist derjenige mit dem Saxofon. Ein bisschen ist es wie das Rätsel mit Mikela und Shea, den eineiigen Zwillingen aus Peters Gastfamilie. Lange hat es gedauert, bis der 19-Jährige sie nicht mehr nur zufällig mit dem richtigen Namen ansprach. Da waren schon einige Wochen seines zehnmonatigen Aufenthalts in Menomonie, Wisconsin, vergangen, einem Städtchen, das mit rund 15.000 Einwohnern so groß ist wie Peters Heimat Titisee-Neustadt im Schwarzwald.
Das Foto mit dem Helm entstand nicht beim Fasching, es zeigt Peter als Mitglied der Marching Band seiner Gastschule, und die ist so etwas wie der Werbebanner einer jeden High School, der stets zur besten Sendezeit läuft: vor einem Football-Spiel und während der Halbzeit. Erst kommt die Nationalhymne, dann der Anpfiff. In der Halbzeit stellen sich die rund 90 Schulmusikanten sternförmig auf und schmettern eine gewagte Musikmischung von den Carmina Burana bis zur »Star-Wars«-Melodie durchs Stadion. »Ein bombastischer Sound«, sagt Peter.
Damit das Ganze auch ordentlich Eindruck macht, braucht die Band nicht bloß schmucke Uniformen und glänzende Helme, sondern auch viel Disziplin. Ein Neuling gelangt da bei den Orchesterproben meist rasch zu Kräften, denn für jeden Fehler muss er fünf Liegestütze machen. »Das ist richtig militärischer Drill«, erzählt Peter. »Aber gut: So bemüht man sich auch, die Dinge rasch auswendig zu lernen.«
An seinem Gymnasium in Neustadt muss der Abiturient für eine verpatzte Vokabelarbeit zwar nicht auf alle Viere, dafür aber ist der Unterricht trockener. »In Deutschland ist die Schule eine reine Lehranstalt. In Amerika hat man nachmittags frei, bleibt aber den ganzen Tag da - freiwillig.« Die Schule ist die Familie, das Schulgelände ihr Wohnzimmer. Mit 1300 Schülern ist die Menomonie High School eine Großfamilie. Wenige der Lehrer sind über 30 Jahre alt. Viele kommen vorbei, wenn die Schüler private Partys feiern. Peter sagt: »Das könnte ich mir in Deutschland nicht vorstellen.«
Mathe für Freiwillige
Auch der Unterricht unterscheidet sich. Peters Hauptfach war »Adult Recreation«, auf dem Lehrplan standen Ski- und Kanufahren, Bowling und Kartenspielen. Deutschen Schülern mag es paradiesisch erscheinen, mit Pokern und Kegeln das Abi zu bestehen. »Aber da drüben haben viele das Problem, dass sie nicht wissen, was sie in ihrer Freizeit machen sollen«, erklärt Peter Sinn und Zweck der Lehrveranstaltung. Die Abschlussklausur bestand aus einem Kartenturnier, Peter wurde Klassenbester.
Natürlich gibt es auch Mathe - für Freiwillige. Doch Peter war der Unterricht in den USA nicht anspruchsvoll genug. »Ich denke schon, dass das Bildungsniveau nach dem Abitur höher ist als nach der High School.« Ein Mitschüler fragte sogar einmal: »Du bist hierher geflogen? Gibt es in Deutschland denn auch Flugzeuge?«
Im eigenen Land kennen sich die Schüler dafür bestens aus: Amerikanische Geschichte ist Pflichtfach. Auch da geht es in erster Linie nicht um das Lernen von Zahlen und Fakten, dafür arbeiten die Schüler zum Beispiel in wochenlanger Recherche historische Gerichtsprozesse auf und spielten sie anschließend im örtlichen Gerichtssaal in Roben und vor Publikum nach.
Peters zweites Pflichtfach war »Band«. Er spielte nicht nur in der Marschier-Truppe, sondern auch noch in einer Sinfonic Band mit Bläsern und Schlagzeugern. Ihre Musik beschreibt er mit ausgreifenden Armbewegungen. Ein passender Begriff fällt ihm dafür nicht ein. »Schön« sei sie jedenfalls gewesen.
Flickenteppich aus Emblemen
Aus seinem Erinnerungskarton kramt Peter einen Aufnäher in der Größe einer Ansichtskarte. Er zeigt eine Leier, das klassische Emblem traditioneller Musikvereine zwischen Flensburg und Tirol. Die Menomonie High School führt Aufnäher für Musiker, Footballer und Tennisspieler, für Turniersieger, Jahrgangsbeste und andere geprüfte Talente. Per Katalog können sich die Schüler Jacken in der Schulfarbe Bordeauxrot ordern, um die Auszeichnungen effektvoll darauf anzubringen. Manche tragen einen regelrechten Flickenteppich aus Emblemen spazieren - entziffern können ihn nur die Eingeborenen von Menomonie. »Wenn ich hier mit einer Jacke rumliefe, auf der Kreisgymnasium Titisee Neustadt stünde, wäre das ziemlich komisch«, sagt Peter, aber seine Mitschüler identifizierten sich eben auch nicht so sehr mit ihrem Gymnasium.
Einen Tag wird er so schnell nicht vergessen. Die Football-Mannschaft seiner Schule hatte es weit gebracht und durfte im 70.000 Plätze umfassenden Stadion von Madison spielen - ein großer Auftritt für die Marching Band. Zusammen mit den anderen Helmen glänzte auch Peters in der Sonne; sein Saxofon blies mit im Sturm aus Posaunen und Trompeten. Peter holt tief Luft und erinnert sich einige Sekunden lang stumm an den großen Moment.
Die Mädchen auf den Rängen flogen aber mehr auf die Sportler. »Das ist hier auch so: Wer kickt, genießt mehr Ansehen als jemand aus dem Musikverein.« Peter nimmt es gelassen. Was wären die High-School-Kicker ohne das rot-goldene Band der Sympathie aus Uniformen, Aufnähern und Bläserblech, das ihnen das Feld bereitet?
Kathrin Wesely, 33, ist freie Journalistin in Stuttgart. Sie singt gern laut und falsch Lieder von Brecht, möchte dafür aber keine Liegestütze machen müssen.