Liebe Frau Peirano,
ich bin 40 und habe hart dafür gearbeitet, dass es mir gut geht. Jetzt lebe ich in einer liebevollen Partnerschaft, habe eine süße Tochter, einen Beruf, der mir Spaß macht und einen tollen Freundeskreis.
Als Kind hatte ich es nicht einfach. Meine Mutter war eine schwierige Frau. Es ging immer nur um sie. Wir sind in meiner Schulzeit zwölfmal umgezogen, sie hatte in der Zeit sechs "feste" Beziehungen und unzählige Männerbekanntschaften. Zwei dieser Männer haben mir richtig Angst gemacht, der eine hat mich auch geschlagen. Meiner Mutter ist auch öfter die Hand ausgerutscht.
Meine Mutter hat sich eigentlich nur um sich gekümmert, und ich war die Zuhörerin und Hilfe für alles.
Ich möchte eigentlich nur noch einen Haken unter meine Kindheit ziehen, aber das ist nicht so einfach. Ich war schon länger in Therapie und habe alles aufgearbeitet und verstehe jetzt, was passiert ist.
Auch als Erwachsene war die Beziehung zu meiner Mutter alles andere als leicht. Sie hat mir Schuldgefühle gemacht, weil ich so ein gutes Leben habe, während sie krank ist (als Raucherin und jemand, der sich nie bewegt hat, auch selbst verschuldet). Sie hat zwischen meinem Mann, meiner Tochter und mir Unfrieden gestiftet. Und dauernd nachts angerufen wegen irgendwelchen vermeintlichen Notfällen. Eigentlich ging es nur um Aufmerksamkeit.
Ich habe den Kontakt zu meiner Mutter seit einem guten Jahr abgebrochen, und nachdem ich das (und die Schuldgefühle, die damit zu tun hatten) verarbeitet hatte, ging es mir richtig gut. Ich war zwar immer noch wütend auf sie, aber es war auch schön, nichts mehr mit ihren ständigen Schwierigkeiten zu tun zu haben und mich einfach nur um mein Leben zu kümmern.
Jetzt beschleicht mich immer wieder der Gedanke, ob ich ihr nicht vergeben soll. Sie hat es nicht besser gewusst. Auch sie hatte eine schwierige Kindheit ohne Vater. Und außerdem ist sie eine alte Frau (75). Vielleicht werfe ich es mir ja mal vor, dass ich nicht für sie da war, wenn sie eines Tages nicht mehr lebt.
Nur vergeben ist nicht so einfach. In psychologischen Ratgebern wird das immer wieder empfohlen, um loszulassen und frei zu werden, aber ich schaffe das einfach nicht. Es ist noch zu viel Wut und Groll da.
Was raten Sie mir?
Herzliche Grüße
Nadia H.
Liebe Nadia H.,
ich möchte Ihnen erst einmal dazu gratulieren, dass Sie es geschafft haben, sich ein tolles und heiles Leben aufzubauen! Das ist eine große Leistung, und es muss Sie viel Kraft gekostet haben! Und das alles trotz des fehlenden Vorbilds und angesichts der enormen Anpassungsleistung, die Sie als Kind leisten mussten. Darauf können Sie stolz sein.
Ihre Mutter hat Ihre Kindheit überschattet. Sie hat nicht Sie, das Mädchen, in den Mittelpunkt gestellt, sondern sich selbst. Sie waren die Leidtragende. Dauernde Umzüge, Schulwechsel und das Zerbrechen von Freundschaften können für Kinder sehr frustrierend, verstörend und möglicherweise auch traumatisch sein. Sie können Schulleistungen gefährden und das soziale Lernen erheblich beschweren.
Darüber hinaus haben sich die Rollen in Ihrer Kindheit umgekehrt: Ihre Mutter hat sich benommen wie ein bedürftiges Kind, und Sie sind in die Rolle der kümmernden, stabilen Erwachsenen geraten. Das ist für ein Kind eine große Überforderung und abgesehen davon nimmt diese frühe Verantwortung dem Kind die Möglichkeit, ein Kind zu sein. Kind sein heißt: Lernen dürfen, spielen dürfen, Erfahrungen machen dürfen in dem Wissen, dass jemand aufpasst und einem hilft, wenn man verletzt wurde. Für Sie hingegen muss es extrem anstrengend und überfordernd gewesen sein, ein Kind zu sein.

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe
Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben.
Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.
Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.
Ich kann deshalb gut verstehen, dass Sie davon erschöpft sind. Ihr Bedürfnis, sich voll und ganz auf Ihre Familie, Freunde und Ihre Arbeit zu konzentrieren, ist absolut berechtigt.
Und die Störungen von Ihrer Mutter, die auch Ihre heile Welt durcheinander bringt (oder vielleicht auch bringen will?) und anscheinend immer noch nicht auf sich selbst achtet, bringen Sie wahrscheinlich an die Grenze Ihrer Geduld und weit darüber hinaus.
In der modernen Psychotherapie gibt es sehr viele Ansätze (z.B. Akzeptanz- und Commitment Therapie (ACT), achtsamkeitsbasierte Ansätze, Arbeit mit dem inneren Kind, in denen Menschen lernen, ihre Gefühle zu erkennen, zu benennen (es ist ja oft eine Mischung) und vor allem wertfrei (!!!) anzunehmen. Das heißt: Man darf alles fühlen, was man fühlt. Ohne jedes Wenn und Aber, ohne jedes Falsch und Richtig. Erst im zweiten Schritt kann man überlegen, wie man mit seinen Gefühlen umgeht. Das heißt: im stillen Kämmerlein darf ich mir eingestehen, dass ich in meinen attraktiven Nachbarn verliebt bin. Ausleben sollte ich es nicht, wenn mir etwas an meinem Mann liegt.
Sie verspüren sehr viel Wut und Groll auf Ihre Mutter. Und Sie verspüren den Wunsch, Ihr eine Grenze zu ziehen und sie nicht mehr in Ihr Leben zu lassen.
Und gleichzeitig haben Sie Schuldgefühle, vermutlich weil Sie in Ihrer Kindheit von Ihrer Mutter gelernt haben, dass die Gefühle Ihrer Mutter das oberste Gebot sind.
Nehmen Sie dieses Gemisch aus Gefühlen doch erst einmal so an und sagen Sie sich: Ich fühle dies und ich fühle das und da ist auch noch dieses Gefühl…
Und das darf so sein, das ist völlig in Ordnung so.
Und dann geht es darum, ob Sie verzeihen sollen oder sogar "müssen". Liebe Nadia, Sie müssen gar nichts. Sie können sich frei entscheiden!
Denn der Druck, nach all dem Leid jetzt einfach zu sagen "Ich vergebe dir, Mutter" kann auch wieder extrem belastend sein, wenn Sie sich nicht danach fühlen. Zudem müssten Sie ja das höllische Minusgeschäft, in dem Sie als Kind waren, dann auch weiter fortführen oder noch verstärken, wenn Sie Ihre Mutter in nicht allzu ferner Zukunft pflegen.
Wie wäre es denn, wenn Sie eine modernere Form der Vergebung versuchen: Nämlich den Konflikt zu klären? Früher hatten die Eltern das Sagen, Kinder durften nicht widersprechen und mussten schlucken. Und deshalb blieb ihnen nur die Vergebung: Die Kinder haben daran gearbeitet, dass ihre Gefühle sie nicht länger belasten. Und die Religion hat noch ihren Teil dazu beigetragen.
Heute wird - zum Glück - alles miteinander besprochen. Es heißt in den Familien nicht mehr: Weihnachten gibt es Ente! Sondern: "Was wollen wir Weihnachten essen?" Und dann gibt es einen Austausch, und am Ende landen vielleicht auch mal vegane Gerichte auf den Tisch.
Und das ist auch richtig so: miteinander reden, Positionen austauschen, Kompromisse finden.
Sie leiden darunter, dass Sie sich nie richtig Luft machen durften, sondern immer den Eindruck hatten, sie müssten alles schlucken - oder den Kontakt abbrechen, wenn es überhaupt nicht mehr geht.
Wie wäre es, wenn Sie Ihrer Mutter mal sagen, wie es Ihnen in Ihrer Kindheit gegangen ist, wie Sie sich gefühlt haben und was daran furchtbar war? Und ihr auch aufzeigen, wie ein Kontakt sein müsste, der sich für Sie besser anfühlt? Und es von dem Erfolg der Klärung abhängig machen, in welchem Ausmaß Sie sich für Ihre Mutter im Alter einsetzen? Wenn Sie es alleine nicht schaffen, suchen Sie sich eine Familientherapie/ systemische Therapie/ professionelle Konfliktbegleitung und laden Sie Ihre Mutter dorthin ein.
Ich kann mir vorstellen, dass ein Teil des Grolls verpufft, wenn Sie Ihrer Mutter das Unaussprechliche (nämlich Ihre Seite) sagen würden und ihr auch Grenzen setzen (ab 20 Uhr ist mein Handy aus, da musst du zur Not den Krankenwagen rufen). Und auch ansprechen, wenn Ihre Mutter wieder etwas tut, was Sie stört (z.B. Ihre Tochter und Sie gegeneinander auszuspielen). Dadurch würden Sie die Ohnmacht verlieren, die Sie als Kind hatten.
Ich gehe davon aus, dass eine Klärung sehr anstrengend und zäh wird, aber Sie könnten durch das Standhalten sehr viel Frust aus Ihrer Kindheit abbauen und dann immer wieder austarieren, wie viel Kontakt mit Ihrer Mutter Sie gerade haben möchten. Und das können Sie ihr mitteilen.
Es wäre ein völlig neuer Weg: Konflikt klären statt schlucken. Aber ein sehr viel interaktiverer und dynamischer Weg, als wenn Sie sich die Aufgabe auferlegen, im Alleingang alles zu vergeben. Denn so ist es auch die Aufgabe Ihrer Mutter, reinen Tisch zu machen.
Denken Sie doch mal drüber nach.
Herzliche Grüße
Julia Peirano