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J. Peirano: Der geheime Code der Liebe Mein Vater hat sein Leben lang getrunken. Muss ich ihm helfen, obwohl es mich krank macht?

Wenn die Eltern alt werden, ist das für viele Kinder eine Herausforderung – für manche auch eine extreme (Symbolbild)
Wenn die Eltern alt werden, ist das für viele Kinder eine Herausforderung – für manche auch eine extreme (Symbolbild)
© South_agency / Getty Images
Ihr ganzes Leben litt Martina unter ihrem kalten und alkoholkranken Vater. Nun ist er auf sie angewiesen. Und sie hat Schuldgefühle, dass sie nicht helfen will.

Liebe Frau Peirano,

meine Mutter starb sehr überraschend vor zwei Jahren. Zurück blieb mein Vater, inzwischen 81, seit ich denken kann alkoholkrank, mit vielen gesundheitlichen Baustellen, Pflegegrad 3. Er ist sehr unselbstständig, bis zu ihrem Tod wurde er praktisch rundum versorgt von meiner Mutter.

Für die nötige medizinische Versorgung kommt zweimal am Tag ein Pflegedienst.

Ich hatte eine sehr belastende Kindheit und Jugend. Keine physische, aber enorme psychische, verbale Gewalt durch seine Alkoholkrankheit und seine emotional kalte, nur auf Leistung orientierte Persönlichkeit.
Habe ich nicht funktioniert, sprich extrem gute Noten nach Hause gebracht, o.ä. gab es erniedrigende Schimpftiraden und darauf folgte tagelanges Ignorieren und Schweigen. Kritik, Sarkasmus, Häme (zum Beispiel meine körperlichen Veränderungen in der Pubertät betreffend) waren mein Alltag. Ich entwickelte schon zu Beginn der Pubertät eine Angststörung.

Meine Mutter war in all den Jahren die typische Co-Abhängige. Sie schützte ihren Mann, wo es nur ging, ergriff immer seine Partei und hätte lieber uns Kinder geopfert, als sich mit ihm und dessen Sucht auseinanderzusetzen. Als ich mir mit 15 das Leben nehmen wollte, mit Tabletten - zum Glück die Falschen und viel zu wenig - ging sie mit mir am nächsten Tag zwar zum Hausarzt, verweigerte aber jegliche Therapie und psychologische Hilfe für mich, da sie ihm dann davon hätte erzählen müssen...

Als ich nach dem Abitur in eine andere Stadt ging, um zu studieren, konnte ich endlich ein wenig aufatmen und eine Therapie machen. So bekam ich mein Leben ganz gut geordnet. Als sie vor 20 Jahren wieder in meine Nähe zogen, hielt ich den Kontakt zwar aufrecht, ich wollte meinem Sohn nicht die Großeltern nehmen, aber jeder Besuch war ein emotionaler Kraftakt für mich.

Jetzt ist er allein, ein hilfloser, alter Mann und da ist nun auf der einen Seite mein schlechtes Gewissen, das mich quält und mir vorwirft, ich muss mich um ihn kümmern, eine moralische Verpflichtung, auch durch Druck von außen ("Er ist doch trotz allem dein Vater") und auf der anderen Seite diese immer noch vorhandene Abneigung, der regelrechte Widerwille beim Betreten des Hauses und das (auch körperliche) Unwohlsein in seiner Gegenwart.

Die Besuche halte ich möglichst kurz, ein bisschen gezwungene Unterhaltung und Einkäufe für ihn, meistens einmal, gelegentlich auch zweimal in der Woche. Begleitung zu Arztbesuchen. Aber mir geht es an den Tagen davor schlecht, ich schlafe sehr schlecht und ich merke einfach, wie sehr mich diese Situation belastet. Meine Panikattacken sind zurück.

Ich überlege hin und her, wie ich mich da emotional mehr rausnehmen kann.
Ich suche nach einer Strategie für mich, die mich einfach nur die nötige Versorgung organisieren lässt - dem entkomme ich nicht. Hätte ich die Wahl, würde ich mich liebend gerne um jeden anderen Menschen kümmern, nur eben nicht um meinen Vater.

Viele Grüße

Martina G.


Liebe Martina G.,

Sie haben in Ihrer Kindheit offensichtlich sehr gelitten! Das klingt nach schwerem emotionalen Missbrauch, den Sie durchgemacht haben. Und leider ist genau das nicht selten bei Kindern von Alkoholikern und anderen psychisch schwer erkrankten Eltern. Besonders belastend ist, dass in der Regel zu dem kranken Elternteil entweder ein Elternteil gehört, der die Flucht ergriffen hat oder - wie bei Ihnen - ein co-abhängiger Elternteil, der den Missbrauch und die Verleugnung deckt. Ansonsten hält man es ja auch nicht aus mit einem Alkoholiker.
Sie kennen sich durch Ihre Therapie ja bereits mit der Familiendynamik gut aus, was Sie wahrscheinlich gerettet hat, aber vielleicht hilft Ihnen ja trotzdem noch einmal das Buch:

"Familienkrankheit Alkoholismus". Im Sog der Abhängigkeit" von Ursula Lambrou.

Ich habe einige PatientInnen gehabt, die ein ähnliches Schicksal hatten, und viele litten jahrzehntelang: Von mittelschweren bis starken Depressionen, Angsstörungen, psychosomatischen Problemen, Süchten, Impulskontrollstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Bindungsstörungen war alles zu beobachten.

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht und anschließend zwei Bücher über die Liebe geschrieben.

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Viele dieser Betroffenen haben jahrelange Therapien gemacht (oft auch stationär), um sich zu befreien und sich ein eigenes Leben aufzubauen.

Ich habe einen Heidenrespekt vor dem Einsatz, den die Betroffenen (und auch Sie) gebracht haben, um sich zu befreien und zu heilen!

Wie bei Ihnen habe ich nicht selten miterlebt, wie die Elternteile, die dieses Leid verursacht haben, irgendwann alt und krank wurden. Es ist ja eher die Regel als die Ausnahme, dass Alkoholiker im Alter krank und pflegebedürftig werden, weil die Folgen der jahrzehntelangen Alkoholvergiftung sich auswirken: Organversagen, Demenz, Unfähigkeit, sich selbst zu versorgen, Gedächtnis-und Konzentrationsprobleme, Stürze und Knochenbrüche, Verwahrlosung der Wohnung usw.

Es ist ein schreckliches Schicksal für alle!

Aber eben auch für die Kinder dieser Alkoholiker, die sich mühsam distanziert und befreit hatten. Sie wurden dann quasi erneut von dem kranken Elternteil an sich gebunden. Ich habe von den PatientInnen als Bezeichnung für den kranken Elternteil Worte wie "Krake", "schleimige Schnecke", "Lawine", "Gefängnis" und "Monster" gehört. Das bezeichnet das Leid ganz treffend…

Es bedeutet eine Retraumatisierung, als Erwachsene wieder gegen den eigenen Willen in die krankmachende Umgebung zurückgehen zu müssen, und viele haben darauf wieder mit Panik- und Angststörungen, Depressionen oder Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung reagiert. Viele mussten sich krank schreiben lassen oder hatten Probleme, ihren eigenen Alltag zu bewältigen.

In diesen Therapien ging es immer um Abgrenzung und die Bearbeitung der Schuldgefühle.

Ich habe zusammen mit den Patien:iInnen immer die Unterschiede zwischen "normalen", liebevollen Familien und solchen missbräuchlichen Familien erarbeitet. Es war wichtig zu verstehen, dass in einer so krankmachenden Herkunftsfamilie auch andere Spielregeln gelten als in "normalen" Familien. Stellen Sie sich vor, in einer Partnerschaft schlägt der Mann seine Frau grün und blau. Und dann sagen die (unwissenden) Freundinnen der Frau zu ihr: "Naja, jede Ehe hat ihre Höhen und Tiefen. Vielleicht solltet ihr einfach mehr Zeit miteinander verbringen, das hilft ja immer."

Wie finden Sie diesen Rat? Ich finde ihn grotesk und völlig unpassend, denn eigentlich sollte man der Frau raten, sich zu trennen und diesen Mann anzuzeigen. Es ist nämlich keine "normale" Ehe mit ihren "normalen" Höhen und Tiefen, sondern eine toxische, gewalttätige Ehe. Und genau das sollte man verstehen und benennen.

Klare Worte und Gedanken zu finden würde ich Ihnen auch raten: Machen Sie sich bewusst, WARUM Sie mit Ihrem Vater nichts zu tun haben wollen und es Sie krank macht, dort ein- und auszugehen. Ihr Vater hat ja sein Leben nach der Sucht ausgerichtet und in Kauf genommen, dass seine Familie unter ihm leidet. Er hat anscheinend weder eine Suchttherapie in Anspruch genommen noch sich Gedanken gemacht, wie er seine Kinder schützen kann. Sondern er hat die Familie dominiert und von ihrer Energie gezehrt (ich denke da an Ihre Mutter). Er hat sich nicht darum gekümmert, was seine schlechten Beziehung zu Ihnen und seine Sucht im Alter für ihn bedeuten, nämlich dass er krank und einsam sein wird. Empfinden Sie Mitleid für ihn oder finden Sie, dass er sich das selbst zuzuschreiben hat?

Hilfreich wäre auf jeden Fall der Austausch mit anderen Betroffenen in einer Selbsthilfegruppe, z.B. Al-Anon für die Angehörigen von Alkoholkranken. Die anderen TeilnehmerInnen werden auf jeden Fall wissen, wovon Sie sprechen! Und das hilft und bestärkt Sie, sich selbst zuzuhören und sich Glauben zu schenken.

Unterstützen Sie sich mit Menschen, die ähnlich denken und Sie gut verstehen. Ein Buch, das auch neue Denkansätze bringt, ist:

"Warum wir unseren Eltern nichts schulden" von Barbara Bleisch.

Ein weiterer hilfreicher Ansatz: Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine erwachsene Tochter, die unter ihrem alkoholkranken Vater gelitten hat und sich von ihm distanzieren will, aber Schuldgefühle hat.
Was würden Sie ihr raten?

Das Gleiche gilt natürlich auch für Sie! Schreiben Sie es auf, Argument für Argument, und lesen Sie es sich immer wieder durch. Lesen Sie es sich mit lauter Stimme vor dem Spiegel durch und legen Sie sich Antworten für Menschen zurecht, die sagen: "aber es doch dein Vater"

Haben Sie in Ihrer Therapie gelernt, Wut zu empfinden und zu zeigen? Das wäre auch sehr wichtig, denn Wut ist wichtig für die Abgrenzung. Nur wenn ich wütend bin und mir das auch selbst erlaube, kann ich sagen: Bis hierhin und nicht weiter!

Ich hoffe, dass Sie gut auf sich hören und erlauben, sich stimmig abzugrenzen.


Herzliche Grüße,
Julia Peirano

Dieser Artikel enthält sogenannte Affiliate-Links. Mehr Informationen dazu gibt es hier.

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