Liebe Frau Dr. Peirano,
ich bin 54 Jahre alt und seit etwas mehr als anderthalb Jahren in einer neuen Beziehung mit einem 58-jährigen Mann. Kennengelernt haben wir uns über eine Dating-Plattform. Wir wohnen eine halbe Stunde entfernt, ich auf dem Land, er in der Stadt. Wir sehen uns meist zweimal in der Woche, telefonieren täglich und können auch sehr entspannt zusammen in Urlaub fahren. Wir mögen unsere Familien und Freunde.
Es gibt allerdings ein ganz großes ABER: Ich mag Körperlichkeit, ich knuddel meine Familie und Freunde und habe ein sehr unverkrampftes Verhältnis zur Sexualität. Er hat dagegen kaum Interesse an Sex, nur die ersten Wochen war es mehr, aber das ließ relativ schnell nach. Ganz am Anfang dachte ich noch, dass unsere Bedürfnisse perfekt zusammen passen würden. Er war recht dominant, drehte mich um und nahm mich von hinten. Das gefiel mir gut, da ich mir schon länger einen dominanten Partner (nur im Bett) wünschte.
Leider war diese Phase recht kurz. Danach wurde es immer weniger, inzwischen findet Sex vielleicht zweimal im Monat statt, immer nur morgens in Seitenlage. Er wird nur hart, wenn ich ihn oral errege. Nur weil ich es möchte, dringt er von hinten in mich ein, kann aber nicht in mir kommen, sondern kommt nur, wenn ich ihn nochmals oral befriedige. Er hat mir selber einmal gesagt, dass er in seiner letzten Beziehung, die neun Jahre dauerte, die letzten drei Jahre keinen Sex hatte. Erst habe ich gedacht, es läge an mir, dass er nur ganz schlanke Frauen mag und mein Normalgewicht ihn nicht anmacht.
Um es kürzer zu machen hier die Punkte, warum ich denke, dass er vielleicht einfach nicht auf Frauen steht: Er mag nur Sex von hinten/ Damit er kommt, muss ich ihn immer oral befriedigen/ Er hat mir noch nie beim Sex in die Augen schauen können/ Brüste und Vagina interessieren ihn nicht wirklich/ Wenn wir Leute kennenlernen, interessieren ihn die Frauen kaum, meist knüpft er Kontakt zu den Männern/ Er redet häufig abschätzig übers Schwulsein, findet seine Männlichkeit wichtig.
Vielleicht schätze ich die Situation auch völlig falsch ein. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn sexy und attraktiv finde und ich mir wünschen würde, dass es ihm auch so geht. Und dass ich mir mehr Körperlichkeit wünsche. Daraufhin meinte er, ob ich denke, ich wäre zu dick. Eine Ablenkungstaktik. Daher habe ich ganz entspannt erklärt, wenn nur Menschen mit perfekten Körpern Sex hätten, hätten nur noch sehr wenige Menschen Sex. Dem hat er lächelnd zugestimmt. Ich habe locker gefragt, was ihn denn erregen würde, ob ihn vielleicht eher BDSM anmachen würde. Schließlich erzählte er, dass er erst sehr spät mit Mitte 20 seine erste Freundin hatte. Dass ihn Sex nie so viel interessierte und es immer mehr nachlassen würde.
Bei Zärtlichkeit ist er auch eher unbeholfen, nimmt mich zwar in den Arm und legt auch seine Hand auf mein Knie, aber es kommt mir eher vor wie ein erlerntes Verhalten, aber nicht wie ein Bedürfnis von seiner Seite.
Wir haben viel Spaß zusammen, reden viel miteinander, teilen die Leidenschaft zu Musik, haben einen ähnlichen Rhythmus im Leben, gehen gerne zusammen in Museen. Es wird immer schöner und vertrauter. Wir können auch darüber sprechen, wenn etwas nicht rund läuft. Auch das ist ja nicht selbstverständlich.
Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Macht vielleicht eine gemeinsame Sexualtherapie Sinn? Kann man dabei herausfinden, wie wir auch körperlich zusammenfinden können? Ich möchte nicht aufgeben, was wir haben. Auf der anderen Seite möchte ich auch kein geschlechtloses Leben, ich bin eine gesunde Frau mit einem gesunden Bedürfnis.
Herzliche Grüße
Claudia G.
Liebe Claudia G.,
ich bekomme recht viele Zuschriften von Männern und Frauen, die darunter leiden, dass in ihrer Beziehung die Körperlichkeit nicht (mehr) stimmt. Fast alle berichten, dass sie sich auf einer recht tiefen Ebene nicht angenommen, ungeliebt oder abgelehnt fühlen.
Wie war es eigentlich am Anfang Ihrer Beziehung? Hat Ihr Partner da Lust auf Sie gehabt und Ihnen gezeigt, dass er Sie begehrt und Sie "sein Typ" sind? Oder war Ihre Beziehung von Anfang überwiegend freundschaftlich? Wie haben Sie sich in den ersten Wochen beim Sex mit ihm gefühlt? Hat alles für Sie gepasst oder hatten Sie das Gefühl, dass er garnicht Sie meint? Im Grunde genommen zweifeln Sie ja daran, dass Ihr Partner Sie körperlich begehrt. Dafür spricht Ihr Vergleich mit seiner Ex-Freundin, die schlanker war ("er begehrt einen anderen Frauentyp") oder die Vermutung, dass er homosexuell ist ("er steht überhaupt nicht auf Frauen mit ihren Vaginas und Brüsten").
Sie werden es wahrscheinlich nicht herausfinden, ob er homosexuell ist, wenn er es bisher 58 Jahre entweder nicht war oder mit viel Aufwand unterdrückt hat. Wichtiger ist doch, dass Sie sich nicht begehrt fühlen von ihm! Da sitzt der Schmerz!
Sexualität und körperliche Intimität sind halt die untrüglichste und direkteste Art, um sich nah zu sein und sich gegenseitig Bestätigung zu geben. Und was Beziehungen ohne Sexualität oder mit unbefriedigender Sexualität betrifft, scheiden sich die Meinungen der Therapeuten. Einige Kolleg:innen sagen, dass es auch befriedigende Beziehungen ohne Sexualität gibt bzw. geben kann, andere sagen Paaren klipp und klar: Wenn Sie Ihre Sexualität nicht auf die Reihe kriegen, werden Sie sich wahrscheinlich über kurz oder lang trennen.
Ich bin der Auffassung, dass es für ein Paar nicht wichtig ist, wie oft beide miteinander schlafen oder wie ausgefallen der Sex ist, sondern dass beide sich immer wieder über ihre Sexualität austauschen können und mit ihrer persönlichen Sexualität zufrieden und einer Meinung darüber sind. Sei es, dass bei ihnen Sexualität einen hohen Stellenwert hat und beide gerne experimentieren und optimieren, oder dass beiden klar ist, dass gerade in dieser Lebensphase Sex eher eine untergeordnete Rolle spielt (z.B. wegen kleinen Kindern) und es "genügt", alle paar Wochen eher Standardsex miteinander zu haben (wenn gerade mal Ruhe im Kinderzimmer ist).
Sie beschreiben, dass Ihr neuer Partner und Sie gut miteinander reden können, aber in Bezug auf sexuelle Vorlieben anscheinend nicht wirklich offen miteinander sind. Sie erzählen ihm nichts von Ihrer Vermutung, dass er eventuell homosexuell sein könnte, und er dreht den Spieß um und fragt, ob Sie sich zu dick fühlen. Es hört sich so an, als wenn in puncto Gespräche über Sexualität jeder in seiner Schutz- und Komfortzone bleibt. Die Vermeidung dieses Themas scheint stärker von Ihrem Freund auszugehen. Das macht ja auch Sinn, wenn er entweder, wie er selbst sagt, kaum Interesse an Sexualität hat oder, wie Sie vermuten, sich nicht eingesteht, dass er eigentlich auf Männer steht.
Sie haben jetzt zwei Möglichkeiten.
- Sie finden sich damit ab, das Thema Sexualität so (unbefriedigend) zu lassen, wie es ist. Schreiben Sie doch einmal auf, welche Gefühle/Gedanken/Körperempfindungen Sie damit verbinden, wenn die Sexualität dauerhaft so bleiben würde, wie sie ist (oder sogar weniger wird bzw. ganz brach liegt). Lesen Sie sich einmal die Beschreibungen Ihrer Gefühle/Gedanken/Sehnsüchte/Körperempfindungen laut vor und fragen Sie sich ganz ehrlich: Kann ich es akzeptieren, dauerhaft damit zu leben? Kann ich das sozusagen als Schattenseite unserer Beziehung in Kauf nehmen?
Überlegen Sie auch, ob sich unangenehmen Gefühle/Körperempfindungen/Gedanken durch andere Aktivitäten wie z.B. Selbstbefriedigung, Entspannungsübungen, Sport, schöne Aktivitäten mit Ihrem Partner lindern lassen und ob das ein Weg für Sie wäre, bewusst damit zu leben. Nehmen Sie sich ruhig ausreichend Zeit, um darüber nachzudenken und nachzuspüren, denn es ist eine wichtige Entscheidung!
Und fragen Sie sich auch, was die Alternative wäre: Würden Sie sich trennen und was würde Ihnen dann fehlen? Oder würden Sie sich nach Absprache mit Ihrem Partner einen Liebhaber suchen? - Wenn Ihnen klar werden sollte, dass Sie nicht auf eine befriedigende Sexualität verzichten wollen, empfehle ich Ihnen, noch einmal mit Ihrem Partner zu sprechen und deutlicher zu werden, was Ihr Leid betrifft. Fragen Sie ihn doch, ob er bereit ist, etwas an der Situation zu verändern und über sexuelle Vorlieben zu sprechen und sich zu überlegen, was jeder braucht, um Lust zu empfinden oder auch was die Lust verdirbt. Dann wäre auch das Thema geklärt, ob er ein Problem mit Ihrem Gewicht hat.
Sie können ihn fragen, ob er bereit wäre, mit Ihnen (oder jeder für sich) über Bücher in das Thema einzusteigen. Empfehlenswert sind:
- "Make more love. Ein Aufklärungsbuch für Erwachsene" von Ann-Marlene Henning
- "Die Psychologie sexueller Leidenschaft" von David Schnarch
Natürlich können Sie, wenn er dazu bereit ist, gemeinsam in eine Sexualberatung gehen oder auch Kurse oder Privatstunden für Tantra-Massagen buchen.Letztlich hängt aber alles an der Bereitschaft Ihres Partners, dieses Thema für sich zu entdecken und zu beleben. Ohne ihn bleibt Ihnen dann nur Alternative 1.
Ich hoffe, dass Sie das Thema für sich klären und einen Prozess in Gang bringen können.
Herzliche Grüße
Julia Peirano
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