Bochumer »Polit-Touristen« diskutierten am Bosporus
Es war das erste Mal, dass eine deutsche Universität ein derartiges Seminar auf türkischem Boden ausrichtete. Dr. Uwe Andersen und Dr. Gustav Schmidt, Professoren am Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Ruhr-Universität, sowie Dr. Jürgen Gramke, Honorarprofessor in Bochum und Leiter des »Institute for European Affairs«, luden vom ersten bis fünften Februar 2001 nach Istanbul, um dort mit hochrangigen Vertretern der Türkei und Bochumer Studenten über die Rolle des türkischen Staates innerhalb der Europäischen Union zu diskutieren.
Während eines Vorbereitungsseminars machten sich Dozenten und mitreisende Studis für den Türkei-Aufenthalt fit. Fragestellungen wurden entwickelt, Probleme, die angesprochen werden sollten, umrissen. Professor Andersen erklärt, wie es zu dem ungewöhnlichen Seminar kam: »Jürgen Gramke unterhält seit Jahren intensive Beziehungen zum einem türkischen Großindustriellen, der den Tagungsort zur Verfügung stellte und Kontakte zu Militär, Wirtschaft und Wissenschaft knüpfte.« Kaum in der Metropole am Bosporus angekommen, wartete auf die Bochumer ein umfangreiches Programm. Der Seminarplan war eng gesteckt, eine Diskussionsrunde jagte die nächste, Führungen standen auf dem Programm. Da blieb wenig Zeit für Muße und Sightseeing.
Doch dazu waren die Politikwissenschaftler ja auch nicht so weit gereist. Vielmehr sollte eine durchaus kritische Diskussion mit den Referenten geführt werden, auch strittige Aspekte innertürkischer und innereuropäischer Beziehungen zur Sprache kommen. Doch das klappte nicht immer. »Es wird zu schnell empfindlich reagiert«, stellte Uwe Andersen während der Diskussion mit den türkischen Vertretern fest. Und Studentin Jaqueline Jansen bemängelte: »Vor allen Dingen Cevic Bir, ehemaliger General der türkischen Armee, neigte dazu, vieles schön zu reden und die türkischen Streitkräfte in einem besonders guten Licht dastehen zu lassen.«
Nur wenige kritische Töne vernahmen die Bochumer »Polit-Touristen« während ihres Aufenthalts in der kontinentalen Grenzstadt. Andersen vermutet dahinter Angst vor Repressalien durch den türkischen Staatsapparat. Nur Professor Dr. Semih Gemalmez von der staatlichen Istanbuler Universität wagte es, die Karten offen auf den Tisch zu legen. So befinde sich die Türkei seit den 70er Jahren im politischen Ausnahmezustand, ließ der türkische Dozent verlauten. Gemalmez' Offenheit lässt Professor Andersen hoffen: »In der Türkei gibt es auf jeden Fall so etwas wie Pluralität der Meinungsäußerung, wenn auch oft ein Damoklesschwert darüber schwebt.« Andersen sieht für den EU-Beitritt der Türkei eine Chance, wenn sich der türkische Staat zu mehr Kompromissbereitschaft durchringt. Doch auch bei der Europäischen Union sieht der Politikwissenschaftler noch Handlungsbedarf: »Europa ist sich nicht klar darüber, in welcher sicherheitspolitischen Situation die Türkei steckt.« Für Andersen steht fest: »Die Türkei ist ein Teil Europas, und das trotz differenter Entwicklungstendenzen und einer anderen Einstellung zur Politik.«
»Schade nur, dass wir keine türkischen Studenten getroffen haben«, bemängelte Jaqueline Jansen nach der Rückkehr aus der türkischen Großstadt. Und auch die Führung in eine von jenem türkischen Großindustriellen aufgebaute Eliteschule empfand die Studentin als eher irritierend: »Manchmal kamen wir uns vor wie im Zoo.«
Ein besonderes Ereignis im sonst eher theoretisch angelegten Politikstudium war der Istanbul-Besuch aber in jedem Fall, auch wenn sich die Bochumer Politikwissenschaftler kein umfassendes Bild vom Leben in der Türkei machen konnten, zumal keine Zeit für eine Fahrt in ländlichere Gebiete blieb.
Trotzdem steht für Professor Andersen fest: »Die Studenten verbinden mit einer Auslandsreise wesentlich mehr Erfahrungen.« Eine Kooperation mit der Istanbuler Universität möchte der Bochumer Politologe deshalb nicht ausschließen: »Vielleicht ergibt sich ja daraus auch ein reger studentischer Austausch.« (sf)