Es kann schon passieren, wenn Sie auf der Fahrt in den Urlaub sind. Vor Ihnen liegt ein behelmter Mensch auf der Straße, sein ramponiertes Motorrad 20 Meter weiter im Graben. Das Auto, mit dem er offenbar kollidiert ist, steht daneben - der Fahrzeugführer sitzt noch hinterm Lenker, unter Schock. Sie gehen auf den verletzten Motorradfahrer zu, sehen, dass sein linkes Bein grotesk verdreht ist. Er ist zwar noch ansprechbar, aber unfähig, sich zu bewegen.
Was ist zu tun?
Es kann auch im Urlaub passieren, wenn Sie in Ihrem Strandkorb sitzen und die Zeitung lesen. Plötzlich schreit ein Kind, brüllt wie von Sinnen. Eben hat es noch mit dem Spaten an einer Sandburg gebaut, jetzt windet es sich im Sand, der schon rot ist von Blut. Der Junge hat sich den Spaten in seinen rechten Fuß gestoßen. Oder am Pool der Hotelanlage, wenn die alte Dame, die eben noch konzentriert ihre Runden geschwommen ist, plötzlich leblos im Wasser treibt. Sie springen sofort hinein und ziehen die Frau aus dem Becken. Sie ist blass, regt sich nicht mehr und hat die Augen geschlossen. Nur ein paar Kinder sehen erschrocken zu, was Sie jetzt machen.
Mal ehrlich: Wüssten Sie noch genau, was zu tun ist? Wie Sie die bewusstlose alte Dame wiederbeleben könnten? Wie Sie den Beinbruch des Motorradfahrers oder die tiefe Wunde im Fuß des kleinen Jungen versorgen müssten? Wie lange liegt Ihr letzter Erste-Hilfe-Kurs zurück? Immerhin haben 80 Prozent der Deutschen mal einen gemacht, die meisten wohl vor der Führerscheinprüfung. Aber im Schnitt liegt der nach Angaben des ADAC satte 15 Jahre zurück.
Oft zählt jede Sekunde
Machen wir uns nichts vor: Im Notfall wissen die wenigsten von uns, wie man sich richtig verhält. Dabei hängt in der Zeit zwischen dem Unfall und dem Eintreffen des Rettungsdienstes - im bundesweiten Durchschnitt sind das immerhin elf mitunter quälend lange Minuten - alles vom beherzten Zugriff der ersten Helfer am Notfallort ab. Nur ein Beispiel: Jede Minute ohne Wiederbelebung bedeutet für einen bewusstlosen Menschen, der nicht mehr atmet, eine verringerte Überlebenschance von zehn Prozent. Deshalb ist der schnelle Griff zum Handy meistens einfach zu wenig.
Gerade jetzt, in den Sommerferien, ist Erste Hilfe mehr als im übrigen Jahr gefragt: wenn sich wieder endlos lange Autoschlangen über die deutschen Autobahnen quer durch die Republik quälen, rüstige Rentner haufenweise die Hochgebirge bekraxeln, selbsternannte Freistilschwimmer Nord- oder Ostsee durchkraulen oder juvenile Dösbaddels angeschickert oder zugedröhnt in Seen und Flüsse springen. Deshalb haben das Deutsche Rote Kreuz (DRK), der ADAC, der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft, die Johanniter-Unfallhilfe und der Malteser Hilfsdienst eine konzertierte Aktion gestartet: "Fit in Erster Hilfe" heißt das Programm, das von Mai bis Oktober läuft. In zwei kompakten Auffrischungskursen - "Verkehrsunfall" und "Wiederbelebung" - von jeweils 90 Minuten sollen potenzielle Ersthelfer wieder einsatzfähig gemacht werden.
Viele trauen sich nicht zu helfen
Vor ein paar Wochen erst machte der ARD-"Ratgeber Auto + Verkehr" die Probe aufs Exempel, stellte, erschreckend realistisch, einen Unfall nach. Eine junge Frau mit großer Platzwunde am Kopf lag neben ihrem umgestürzten Auto. Ergebnis des stundenlangen Tests: Im Durchschnitt fuhren sieben Fahrzeuge vorbei, bis einer anhielt. Und von jeweils drei, die im Lauf des Versuchs stoppten, wussten zwei nicht, was zu tun ist - oder trauten sich einfach nicht zuzugreifen. Dabei kann man sich sogar strafbar machen: Unterlassene Hilfeleistung wird mit einer hohen Geldbuße oder bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet werden.
Dabei gibt es kaum jemanden, der wirklich teilnahmslos oder ungerührt an Unfallschauplätzen vorbeirauscht. Die Wurzel des Problems liegt tiefer: Aufgrund mangelnder Kenntnisse in Sachen Erster Hilfe und der tiefen Unsicherheit, womöglich etwas falsch zu machen, schauen viele Zeitgenossen einfach weg und fahren vorbei. Einem verletzten unbekannten Menschen zu helfen, erfordert nicht nur enormen Mut, sondern vor allem Sicherheit in Erster Hilfe. Und genau daran hapert es bei einem Großteil der Deutschen.
Angestaubtes Image
Freilich nicht ohne Grund. Erste-Hilfe-Kurse hatten bislang ein äußerst angestaubtes Image. Mit solchen Kursen assoziiert man immer noch elend lange Wochenendseminare in tristen und stickigen Arbeitsräumen. Im Stuhlkreis sitzen sich wildfremde Menschen gegenüber, die sich so gar nichts zu sagen haben und deren einzige Verbindung eine in die Jahre gekommene Gummipuppe ist, die man nach jeweiliger Aufforderung und strenger Anweisung bearbeiten muss: Mund-zu-Mund-Beatmung, Rautek-Griff, stabile Seitenlage. Angeleitet und beobachtet von unmotivierten "Ausbilder", die einem schon auf dem ersten Blick zu spüren geben, was sie von ihren neuen "Ersthelfern" halten: gar nichts. Dass kaum jemand seine wertvolle Freizeit opferte, um unter solchen Umständen seine Erste-Hilfe-Kenntnisse von anno dunnemals aufzufrischen, hätte eigentlich nicht verwundern dürfen - zumal solche Fresh-Ups bislang mindestens acht geschlagene Stunden dauerten.
Nach entsprechend alarmierenden Umfragewerten und der nüchternen Erkenntnis, dass die Mehrheit der Bundesbürger in Sachen Notfallversorgung unvorstellbare Nieten sind, haben die Hilfsorganisationen endlich reagiert. Ihre Kursprogramme sind nicht nur radikal gekürzt, sondern auch von Grund auf modernisiert und auf die Bedürfnisse der Teilnehmer umgestellt worden. Um effektiv unterrichten zu können, wurde das Prinzip des todlangweiligen Frontalunterrichts aufgelöst. Ralf Sick, Leiter des Johanniter-Bildungswerks in Esslingen, sagt: "Die Kurse kommen nur dann gut an, wenn sie sich an der Realität von Hilfesituationen orientieren und viel praktische Übungen bringen. Wer Erste Hilfe mit Spaß an der Sache verbindet, wird motiviert, im Notfall auch tatsächlich zu helfen und in den wertvollen Minuten bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes möglicherweise Leben retten." Stefan Osche, Erste-Hilfe-Experte beim DRK, hält das abgespeckte und niederschwellige "Fit in Erster Hilfe"-Auffrischungsprogramm für überfällig: "Die Dauer der Kurse darf nicht länger ein Grund für die Erste-Hilfe-Müdigkeit sein."
Einfache Handgriffe, effektive Abläufe
Im so genannten Kurs-Modul "Verkehrsunfall" lernt man (wieder), was in einem solchen Fall zu tun ist. Schon mit drei einfachen Maßnahmen können Sie Leben retten: zuerst die Unfallstelle mit dem Warndreieck absichern, dann den Rettungsdienst alarmieren und schließlich das Unfallopfer durch Trost und Zuspruch beruhigen. Für die "Fit in Erster Hilfe"-Fresh-Ups wurden sogar Handgriff-Abfolgen vereinfacht, die früher erst nach stundenlangem Training funktionierten: "Die stabile Seitenlage", frohlocken nun immer mehr Ersthelfer, "geht jetzt viel leichter." Gelehrt wird, wie man Unfallopfer aus dem verunglückten Wagen zieht, ihre Wunden erstversorgt und sie schließlich in Rettungsfolie hüllt, bis professionelle Hilfe eintrifft. Nach einem Verkehrsunfall können auch Herzdruckmassagen und Mund-zu-Mund-Beatmungen nötig werden. Was auch im Modul "Wiederbelebung" (neu) trainiert wird. Hier lernt man vor allem, wie man Menschen nach Herzinfarkt oder Schlaganfall am effektivsten hilft und möglicherweise sogar Leben rettet.
Ein hoher Prozentsatz von Notfallopfern kann meist nur in den ersten fünf Minuten nach dem Unfall gerettet werden. Unter solche "zeitsensiblen" Notfälle fallen Schwerstverletzte bei Verkehrsunfällen und Menschen mit Atem- oder Herzstillstand bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. "Jeweils 90 Minuten reichen aus, um einfache lebensrettende Maßnahmen zu lernen", sagt Peter Goldschmidt, Erste-Hilfe-Verantwortlicher beim Arbeiter-Samariter-Bund. Das Wichtigste für Erste Helfer: Ruhe bewahren, umsichtig sein, den Verletzten trösten und ermutigen - und, natürlich, Hilfe holen über die Notrufnummern 110 (Polizei) oder 112 (Notarzt, Feuerwehr). Achten Sie bei einem Anruf die fünf Ws: Wo ist was passiert? Wie viele Verletzte? Welche Art von Verletzungen? Warten auf Rückfragen. Damit können Sie den Rettungshelfern am anderen Ende der Leitung schon eine enorme Stütze sein.
Alles Weitere wird in den "Fit in Erster Hilfe"-Auffrischungskursen der sechs Hilfsorganisationen vermittelt. Wer schnell und direkt wenigstens seine theoretischen Kenntnisse aufpolieren will, klickt das Rote Kreuz an, das Erste Hilfe online nach Stichworten präsentiert: www.drk.de/erstehilfe/ehonline/index.htm. Wer dort nachschaut, weiß wieder, wie man einen Beinbruch versorgt (Bruchstelle nicht bewegen, kühlen, Schonhaltung auspolstern), die alte Dame wiederbelebt (mit Herzdruckmassage oder Atemspende) oder die Blutung am Fuß des Kindes am Strand stoppt (mit möglichst keimfreien Mullkompressen).
Wo Sie die keimfreien Mullkompressen am Strand herbekommen sollen? Gute Frage. Die können Sie dem Kursleiter stellen, wenn Sie demnächst Ihre Erste-Hilfe-Kenntnisse auffrischen. So lange wollen Sie nicht warten? Wir haben schon mal nachgefragt. Keimfreie Mullbinden müssen nicht sein, saubere Tücher tun's auch. Notfalls sogar Ihr Badehandtuch (ausgeschüttelt). Bei einer starken Blutung ist die Blutstillung vorrangig. Eine mögliche Infektion des Betroffenen muss in Kauf genommen werden.