Ihr Leben. Wie bei einem Raubtier, das in seinem Gehege den immer selben Weg entlang der Gitterstäbe abgeht, dessen Blick über jede Unebenheit und jede Abweichung in der Umgebung streift, sie registriert und abspeichert. Jeden Tag, schleichen auf derselben Bahn, bis zur geschmeidigen Kehrtwende am Ende des Käfigs. Vor, zurück. Dazwischen fressen. Wieder losgehen. Am Abend müde auf das Lager sinken. Schlafen. Traumlos. Wieder losgehen. Im Kreis. Einmal bis tausendmal.
Ihr Leben – das, der sechszehneinhalbjährigen Tigerin – es ist hoffnungslos.
Antriebslosigkeit, Müdigkeit, Wortkargheit und Gereiztheit haben von ihr Besitz ergriffen. Früher war sie eine normale Teenagerin. Die Wut auf Corona und auf die gestohlenen Monate schweben jetzt wie eine grüngiftige Wolke über ihr. Man kann zusehen, wie sie anschwillt. Manchmal hat sie auch einen regelrechten Schub und verdoppelt sich explosionsartig, zum Beispiel dann, wenn ein Beitrag in den Nachrichten läuft, dass "momentan" "noch" keine Impftermine für Teenager vergeben werden, weil zuerst andere Alters- und Personengruppen an der Reihe sind.
Vor der Pandemie, als die Teenagerin noch keine grüne Wolke über dem Kopf hatte, kreisten ihre Gedanken um HOM (Haare, Outfit, Make-Up), um AMWUW (Ausgehen mit wem und wohin) und um Js (Juuuuuungs). Jetzt, als Tigerin, hat sich ihr Horizont verkleinert. Er beginnt im Vorzimmer und spannt sich bis in die Küche, genauer gesagt, bis zum Kühlschrank.
"Ich glaube, du hast den Hund lieber als mich"
"Ich glaube", sagte die Tigerin neulich, "du hast den Hund lieber als mich." Ich hielt im Streicheln inne.
"Wie kommst du denn auf diese Idee", fragte ich und zog meine Hand vom Fell des Hundes ruckartig zurück. Der sah mich erschrocken an.
"Aber es stimmt doch", stellte die Tigerin traurig fest. Mir zerriss es das Herz bei ihrem Anblick. Mit einem Erdnussbutterglas stand sie in der Küchentür und beobachtete mich, wie ich neben Tonis Hundebett auf dem Boden saß.
"Toni ist schon sehr alt. Wer weiß, wie lange ich sie noch habe", sagte ich, und als die Worte meinen Mund verlassen hatten, wusste ich, dass es die falschen gewesen waren.
"Das weiß man bei niemandem", sagte die Tigerin und steckte sich einen Löffel Erdnussbutter in den Mund. Ich wollte etwas Lustiges entgegnen, aber da war die Tigerin schon wieder auf dem Weg in ihr Zimmer. Die grüne Wolke über ihrem Kopf zwängte sich nur mit Mühe durch die Türe.
Als ich den kleinen Bruder der Tigerin ins Bett brachte, wollte er wissen, warum nicht jeden Tag Wochenende sein könnte und wie man das ändern könnte. Ich lachte, wir hielten uns in den Armen und ich strich über seine blonden Haare.
Plötzlich waberte die grüne Wolke zu uns ins Zimmer, der Kopf der Tigerin folgte. "Ihn hast du ja auch lieber als mich", sagte sie und es klang endgültig und resigniert.
"Das stimmt nicht", protestierte ich, "ich ... du weißt doch, dass ..." Aber die Tigerin war schon weitergegangen. Die Gitterstäbe entlang.
Dann Stille. Eingerollt auf ihrem Bett wie einen überdimensionalen Embryo fand ich sie. Ich legte mich zu ihr. Dicht an dich. Wie zwei Häkchen. Ich streichelte ihr über den Kopf, summte ein Schlaflied und hüllte sie ein. Wir sprachen nicht. Lagen nur da, nahbeieinander. Die grüne Wolke verblasste.
Die Tigerin schnurrte zwar nicht, aber sie entspannte sich. Durch das geöffnete Fenster blies ein warmer Wind auf uns herab. Einatmen, ausatmen. Rhythmisch hoben und senkten sich unsere Brustkörbe. Im Einklang.
"Ich weiß, dass es gerade schwer ist", sagte ich leise. Sie nickte. "Es tut mir leid", sagte ich. Sie drehte sich um und wir umarmten uns. "Ich habe dich sehr lieb", sagte ich.
"Ich mag nicht mehr", flüsterte sie, "ich hab das alles so satt. Ich will mein Leben zurück."
"Ich verstehe dich", sagte ich.
Dann schwiegen wir.
Morgen würde die Tigerin wieder zu tigern beginnen. Die Stäbe entlang, mit der grünen Wolke über dem Kopf.
Aber das war erst morgen. Für jetzt war es gut.