Der "gläserne Esser" Lieferdienste wie "Gorillas" wissen genau, was wir essen – warum das gefährlich sein könnte

Mit unserem Userverhalten werden wir für Unternehmen wie Gorillas gläsern
Mit unserem Userverhalten werden wir für Unternehmen wie Gorillas gläsern
© Gorillas
Es klingt so einfach: Mit nur einem Klick können wir Lebensmittel nach Hause bestellen. Die Lieferung erfolgt innerhalb weniger Minuten. Und das vom Sofa aus. Was wie eine perfekte Welt klingt, kommt mit einem hohen Preis. Sind wir bereit diesen zu zahlen?

Vor gut zwei Jahren saß Food-Aktivist und Buchautor Hendrik Haase bei einer Freundin zuhause, die unbedingt Kässpätzle essen wollte. Gut, dachte er, dann bestellen wir bei einem Restaurant. Nein, sagte sie, es gibt jetzt etwas Besseres. Sie klickte kurz auf ihrem Smartphone und grinste vor Freude. Zutaten kommen in zehn Minuten, sagte sie, dann kochen wir die selbst, schmeckt doch viel besser. Eine Revolution, dachte Haase. Es gab nun einen Lieferdienst, der schneller liefert als je ein Lieferdienst zuvor: Gorillas, der Supermarkt der Zukunft.

Food-Aktivist und Buchautor Hendrik Haase sieht eine große Gefahr bei Unternehmen wie Gorillas
Food-Aktivist und Buchautor Hendrik Haase sieht eine große Gefahr bei Unternehmen wie Gorillas
© Anika Mester

Auf den ersten Blick war Haase verblüfft: Hier wurde ein Konzept geboren, das den Gang zum Supermarkt ersetzt. Die App enthält ein "digitales Regal", das mit unserem Einkaufsverhalten lernt. Öffnet man die App nach einem getätigten Einkauf erneut, schlägt der Algorithmus die Lebensmittel vor, die zu den ganz persönlichen Vorlieben passen. Ein System, das von Nutzer-Daten gefüttert wird und genau das ausspuckt, was der User möchte. Ein ausgeklügeltes Konzept. Eigentlich. Hendrik Haase schreibt in seinem Buch "Food Code" darüber, wie wir in der digitalen Welt die Kontrolle über unser Essen behalten. Denn bei Lieferdiensten wie Gorillas sieht er eine große Gefahr: Wir werden zum "gläsernen Esser".

E-Food als Chance für Supermärkte

Auf den Straßen Berlins und Hamburgs sind sie allgegenwärtig: Kurierfahrer:innen, die per Fahrrad oder Roller Lebensmittel ausliefern. Dabei ist das 2020 in Berlin gegründete Unternehmen Gorillas längst nicht mehr der einzige Anbieter, der "Lebensmittel in 10 Minuten geliefert" zu seinem Alleinstellungsmerkmal gemacht hat. Getir, Flink, Volt oder Dropp: die Konkurrenz schläft nicht.

Werden normale Supermärkte, so wie wir sie kennen also irgendwann verschwinden? Zukunftsforscherin Hanni Rützler schreibt in ihrem "Foodreport 2023", dass der Gang zum stationären Supermarkt immer noch die Regel sei, aber die Märkte sich verändern müssen. Sie schreibt: "Vor allem der Boom von E-Food hat die Sichtbarkeit und Akzeptanz von alternativen Einkaufsmöglichkeiten zum Supermarkt erhöht." Rützler sieht darin eine Chance für die Supermärkte. Sie müssen sich für die Zukunft fit machen, um so für kommende Generationen attraktiv zu bleiben.

Schwarze Zahlen schreibt bislang keins der E-Food-Unternehmen Unternehmen, sie sind vor allem auf Wachstum aus. Gorillas gerät zudem immer wieder in Kritik wegen schlechter Arbeitsbedingungen. Ein Ex-Manager packte gegenüber der "taz" aus, dass man sich darüber bewusst sein muss, dass die Kundenlieferungen mit einem hohen Preis kommen: "einer modernen Art der Sklaverei". 

Das sieht auch Hendrik Haase so: Für ihn sind die Fahrer:innen nur eine "Art Brückentechnologie": "Die Rider sind für mich menschliche Lückenfüller bis so viele Daten gesammelt sind, dass man autonom fahrende Lieferroboter einsetzen kann, die in den USA beispielsweise schon im Einsatz sind." Die Daten sind der große Knackpunkt an dieser Geschichte: "Für die Art dieses Lieferdienstes brauchen wir Daten", sagt der Food-Aktivist im Gespräch mit dem stern. "Damit die Lebensmittel so schnell geliefert werden können, muss es Lager direkt ums Eck bei uns im Viertel geben, nicht am anderen Ende der Stadt. Anders als ein Einkaufszentrum, das für jeden etwas hat, muss hingegen ein Mikrolager genau wissen, was im Viertel gegessen und häufig bestellt wird."

Roboter, die Essen ausliefern: alles nur Zukunftsmusik? Auf Nachfrage des stern dementiert Gorillas zumindest nicht, dass irgendwann Roboter zum Einsatz kommen könnten. Eine Sprecherin schreibt nur, dass sich "Gorillas als Rider-zentriertes Unternehmen" verstehe. Alle "Technologien und datenbasierte Prozesse werden ausschließlich dafür genutzt, den Arbeitsalltag der Warehouse-MitarbeiterInnen und Rider zu verbessern und Abläufe optimal zu gestalten."

Gorillas weiß ganz genau, wo was konsumiert wird

Wie kann das gelingen? Mit Hilfe von Berechnungen. Algorithmen, die aus den Bestellungen lernen. Die berechnen aus Beta-, Stamm-, Arbeits- und Bestelldaten der ganzen Stadt und vergleichbaren Vierteln, was der Kunde gern mag. Das bestätigt auch Gorillas: Die Kundendaten werden "anhand von anonymisierten User IDs" verarbeitet. "Diese User IDs nutzen wir beispielsweise zur Verbesserung des Nutzungserlebnisses unserer KundInnen im Rahmen der Empfehlungen auf der Startseite und in der Suchfunktion unserer App - eine Standardpraxis, die von allen E-Commerce-Akteuren gleichermaßen genutzt wird." 

Hendrik Haase sieht die Verarbeitung der Daten kritisch: "Im Idealfall wissen Anbieter wie Gorillas dann genau wie viel Flaschen Kombucha oder Veggie-Wurst in Kreuzberg oder Ottensen konsumiert werden", erläutert Haase. "In einem gewissen Teil unseres Lebens werden wir für so eine App komplett gläsern", sagt Haase. "Es kann passieren, dass man in bestimmte Filterblasen abrutscht. Positiv gedacht, man kriegt immer nur Frisches angezeigt, weil man gern frisch kocht. Das geht aber auch in die andere Richtung: Immer mehr Fastfood, immer mehr Chips, immer mehr Ungesundes. Es besteht die Gefahr, wenn man das unkontrolliert ablaufen lässt, dass man sich irgendwann sehr einseitig ernährt." Gorillas verpackt das anders. Sie wollen dazu beitragen, die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. "Unser on-demand Lieferversprechen erleichtert es VerbraucherInnnen nur das zu kaufen, was man braucht, wenn man es braucht", schreibt das Unternehmen auf Nachfrage. Das würde aber voraussetzen, dass der Konsument bereits wisse, wie man sich gesund ernährt.

Die digitale Essgesellschaft

In Berlin hängen derweil verteilt über die Stadtviertel große Werbeplakate, auf denen beispielsweise steht, wo Milchpulver für Babys am meisten gekauft wird, wo Teilchen bestellt werden oder wo so etwas Banales wie grüne Paprika gegessen wird. Das Unternehmen Gorillas wirbt mit der Datenauswertung der Bestellung ihrer Nutzer. "Ich sehe darin, eine Totalüberwachung in der digitalen Essgesellschaft. Und das wird vom Unternehmen nicht mal verborgen, sondern als Marketing ausgeschlachtet", sagt Haase. 

Originalrezept Spaghetti Carbonara: Die einzig wahre Carbonara
© Getty Images / Getty Images
Die einzig wahre Carbonara

Am Ende bleibt die Frage, ob wir bereit sind, den Preis der großen Datensammlung zu zahlen. Sind wir bereit, einen sehr intimen und lebensbestimmenden Teil unseres Lebens, unseres Essverhaltens preiszugeben? Und das nur dafür, dass wir uns den Weg zum Supermarkt sparen.

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