Gemeinschaft, Menschlichkeit und ein "universelles Band des Teilens, das alle Menschen verbindet" – das steckt hinter dem Begriff "Ubuntu". Ein Begriff, der die Lebensphilosophie der Menschen im südlichen Afrika beschreibt. Ubuntu beschreibt eine moralische Grundhaltung, die die Weltsicht der Afrikaner prägt.
Leitlinie für mehr Achtsamkeit
Das Wort, das aus der Bantusprache der Zulu- und Xhosa-Völker stammt, lässt sich schwer mit nur einem einzelnen Ausdruck übersetzen. Viel mehr umfasst Ubuntu eine Reihe von menschlichen Werten wie Mitgefühl, Selbstlosigkeit, Solidarität, Nächstenliebe und vor allem Dingen das Bewusstsein, Teil eines Ganzen zu sein. Eine Leitlinie, die den Menschen zu mehr Achtsamkeit im Leben verhilft.
Die Ubuntu-Philosophie findet sich in jedem afrikanischen Staat südlich der Sahara. Die genaue Auslegung des Konzepts unterscheidet sich zwar von Land zu Land, trotzdem weisen sie laut Definition aus dem "African Journal of Social Work" alle auf den gleichen Ausgangspunkt hin: "Ein authentisches Individuum ist Teil eines größeren und bedeutender Geflechts aus Umwelt, Gesellschaft, Beziehungen, Gemeinschaft und Spiritualität."
Achtsamkeit für ein harmonisches Miteinander
Professor James Ogude von der Universität Pretoria in Südafrika übersetzt Ubuntu in einem Beitrag der "BBC" mit Interdependenz, der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen voneinander und von der Umwelt. Eine Verbundenheit, die im Zusammenleben entsteht und zum Ziel hat, die unterschiedlichen Lebensrealitäten der Menschen zu verbinden, um für ein harmonisches Miteinander zu sorgen.
Dieser Grundsatz spielte in der Geschichte Südafrikas eine wichtige Rolle. Nach dem Ende der Apartheid wurde das Ubuntu-Konzept zu einem zentralen Wegweiser für den Übergang von einer gespaltenen Gesellschaft zu einer friedlichen Gemeinschaft. Das Land befand sich an einem kritischen Punkt, erinnert sich Professor Ogude. Erzbischof Desmond Tutu habe das uralte Wertesystem, das hinter Ubuntu steckt, schließlich populär gemacht.
Ubuntu in der südafrikanischen Verfassung
Für den Geistlichen sei ein Mensch mit Ubuntu für andere offen und zugänglich. "Er hat ein stabiles Selbstwertgefühl, das in der Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen verankert ist", zitiert der "Österreichische Rundfunk" den Bischof. Schließlich fand Ubuntu sogar Eingang in das Nachwort der vorläufigen Verfassung von Südafrika. "Es besteht der Bedarf nach Ubuntu und nicht nach Schikane", ist in dem Dokument von 1993 zu lesen.
Auch in der Politik Nelson Mandelas, der das Land von 1994 bis 1999 regierte, hatte das Ubuntu-Konzept eine essentielle Bedeutung. Barack Obama nannte die afrikanische Philosophie in einer Rede während Mandelas Gedenkgottesdienst "seine größte Gabe": Die Überzeugung, "dass wir uns selbst verwirklichen, indem wir uns mit anderen teilen und uns um die Menschen um uns herum kümmern".
Bei Ubuntu gehe es laut Professor Ogude nicht nur um das soziale Bewusstsein, sondern auch um die Verantwortung, die damit einhergeht. Verantwortung für den Menschen, aber auch für die Umwelt. Ein achtsamer Umgang mit allen Lebewesen, der Erde und schlussendlich auch mit sich selbst. Denn der Mensch ist als Individuum wechselseitig mit seinem Umfeld verbunden.
Achtsamkeit für Menschen, Umwelt und sich selbst
Der Wissenschaftler nennt Bienen als Beispiel. Insekten, die von vielen Menschen als lästig empfunden werden und deren Rolle im Ökosystem oftmals unterschätzt wird. Rund 30 Prozent aller Nutzpflanzen – die Grundlage unserer Ernährung – sind auf die Bestäubung durch Bienen angewiesen. "Wer ihnen schadet, schadet am Ende sich selbst", sagt Ogude im Gespräch mit der "BBC".
Das gemeinschaftliche, kollektive Denken sieht man in Afrika als Gegengewicht zur europäischen Kultur des Individualismus'. "Die Gemeinschaft mäßigt das Ego, weil sie dich ständig daran erinnert, dass du nicht in Isolation lebst", erklärt der südafrikanische Professor. Individualität hingegen, die für Ogude die Entfaltung des eigenen Charakters bedeutete, stehe nicht im Gegensatz zur Ubuntu-Philosophie.
Die Gruppe gilt als Fundament, auf dem sich der Einzelne entwickeln kann. Die afrikanischen Kulturen sehen den Mitmenschen und die Gemeinschaft als Notwendigkeit dafür, dass sich die individuelle Persönlichkeit entfalten kann.
Ubuntu auch in anderen Teilen der Welt
Das moralische Konzept hat sich von Südafrika aus mittlerweile auf der ganzen Erde verbreitet. In den USA verfolgt die Regierung im Außenhandel etwa eine "Ubuntu-Diplomatie". Vom Außenministerium heißt es dazu: "Es bedarf einer gemeinsamen Antwort, um die globalen Herausforderungen zu meistern, denen wir gegenüberstehen." Auch in Bildungssystemen, in der Forschung und in der Entwicklungshilfe sind die afrikanischen Werte vertreten.
Der deutsche Ubuntu-Verein, der Kinder und Jugendliche in Afrika fördert, betont auf seiner Internetseite die Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit lokalen Organisationen und Personen. Für den einzelnen Menschen kann die afrikanische Philosophie ebenfalls bedeuten, sich für soziale Zwecke zu engagieren. Doch Ubuntu kann sich auch schlicht auf die menschliche Interaktion beziehen. Mit einer einfachen Begrüßung zeige man laut Professor Ogude Anerkennung und Respekt gegenüber dem Mitmenschen – zwei zentrale Ubuntu-Werte.
Wer versucht, solch kleine Gesten in seinen Alltag einzubauen, dem verhilft Ubuntu zu mehr Achtsamkeit gegenüber den Mitmenschen und gegenüber sich selbst.
Quellen: Aarhus University, "African Journal of Social Work", "BBC", U. S. Department of State, "Österreichischer Rundfunk", Ubuntu e. V.