Jüdisches Lichterfest Chanukka in Berlin: Manche rieten dem Rabbi zur Ausreise – nicht mit Jeremy Borovitz!

Zwei jüdische Männer mit Hüten stehen vor einem Chanukka Leuchter der vor dem Brandenburger Tor in Berlin aufgestellt wurde
Chanukka in Berlin: Vor dem Brandenburger Tor wurde eine riesige Menora aufgebaut – aber die jüdische Bevölkerung fürchtet immer noch Angst vor Hass und Hetze.
© Christoph Soeder / Picture Alliance / dpa
In Berlin-Neukölln wird Chanukka eingeläutet, das jüdische Lichterfest. Alles soll ganz einträchtig und normal wirken – wäre da nicht der massive Polizeischutz. Es sind Rabbi Jeremy Borovitz und seine Kippa, die den Abend zu einem besonderen machen.

"Die Zeit des Verbergens ist vorbei", sagt der Mann, der Licht in dieses dunkle Deutschland des Winters 2023 bringen will. Er steht am Montagabend im Foyer des Rathauses von Berlin-Neukölln und trägt eine Kippa in trotzigem Knallorange.

Die Kippa ist das Zeichen seines Triumphes.

Rabbi Jeremy Brorovitz hält eine Rede im Rathaus Berlin Neukölln
Rabbi Jeremy Brorovitz bei seiner Rede zur Chanukka-Feier im Rathaus von Berlin-Neukölln.
© Nico Büchse / stern

Jeremy Borovitz lebt in Neukölln. Es gibt einfachere Orte für einen Rabbiner. Und doch hatte er nie hier wegziehen wollen, seit er vor fünf Jahren aus New York hierherkam. Stets trug er stolz die Kippa auf den Straßen des Kiezes und ertrug, dass man ihn beschimpfte, belästigte, manchmal auch bespuckte. Egal, was am Vortag passiert war, Jeremy Borovitz ging am nächsten Morgen wieder mit Kippa auf dem Kopf aus der Haustür.

Keine Kippa mehr auf der Straße

Bis zum 7. Oktober. Ein jüdischer Freund, der ein Sicherheitsunternehmen leitet, kam mit besorgter Miene und Sicherheitsweste vorbei. Er erzählte vom Terrorangriff der Hamas, von den Toten und Verschleppten. Währenddessen verteilte ein palästinensisches Netzwerk zur Feier der Morde Süßigkeiten auf der Sonnenallee, gerade mal hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt. Keine Kippa mehr auf der Straße. Kein Wort Hebräisch mehr in der U-Bahn, beschwor der Freund.

Es folgten Krawallnächte, in denen der Antisemitismus in Neukölln offener und hasserfüllter durch die Straßen brüllte als irgendwo sonst in Deutschland. Tage auch, an denen sich ergoss, was unterschwellig schon lange gebrodelt haben musste. Fast 1000 antisemitische Vorfälle verzeichneten die Meldestellen des Netzwerks Rias bundesweit im ersten Monat nach dem Terrorangriff der Hamas. Allein in Berlin waren es 282.

Jeremy Brorovitz und seine Frau versteckten ihr Jüdischsein. Spürten, wie die Angst die Jüdinnen und Juden in Berlin ergriff. Aus aller Welt schrieben ihm Jüdinnen und Juden und mahnten zur Ausreise.

Angst ist kein guter Begleiter

"Wir haben aber bald gemerkt, dass Angst kein guter Begleiter ist", sagt Borovitz. "Deshalb stehe ich jetzt hier. Ich will nicht länger verleugnen, woran ich glaube." An diesem Abend hat Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) zur Chanukka-Feier ins Rathaus eingeladen. Er hatte erklärt: "Wir werden nicht zulassen, dass der Antisemitismus von wenigen die Lebensfreude und die Hoffnung von vielen hemmt. Wir wollen ein Zeichen setzen: für Gemeinsamkeit, für Vielfalt, für jüdisches Leben und gegen jeden Antisemitismus."

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Menschen stehen auf einem Balkon vor einem Chanukka Leuchter am Rathaus in Berlin Neukölln
Chanukka-Feier am Rathaus von Berlin-Neukölln, hier auf dem Balkon.
© Nico Büchse / stern

Die Zeichensetzung muss gleichwohl unter verstärktem Polizeischutz stattfinden. Doch als sich die Festgemeinschaft vor dem Rathaus versammelt, um dem Anzünden der Kerzen des achtarmigen Chanukkaleuchters beizuwohnen, da klatschen die Menschen laut und trotzig und erleichtert. Darüber, dass Normalität oder zumindest eine Variante davon noch möglich ist in Deutschland, wenn man sich nur nicht verunsichern lässt; wenn man nur zusammenfindet.

Und Jeremy Borovitz, er umarmt und herzt und reckt die Daumen in die Höhe, wieder drinnen im Rathaus die Menschen zur Feier des jüdischen Lichterfestes begrüßend. Dann hält er eine Rede, es wird ganz still: "Ich stehe hier nicht nur als Rabbiner, sondern auch als Neuköllner Jude. Ich bin mit meiner Familie vor fünf Jahren nach Deutschland gekommen. Ich kaufe im selben Laden ein wie die Menschen hier, meine Kinder spielen auf denselben Spielplätzen wie alle Kinder hier. Als New Yorker dachte ich immer, das Multi-Kulti-Leben hier sei mir vertraut. Doch als ein Jude mit Kippa ist es manchmal schwierig in Neukölln. Und die letzten Monate waren besonders schwierig. Menschen aus der ganzen Welt schreiben mir, es sei nicht sicher für Juden in Neukölln. Ich verstehe die Angst. Aber heute stehen wir hier. Neuköllnerinnen und Neuköllner. Jüdinnen und Juden. Christinnen und Christen. Muslimas und Muslime. Israelis und Israelinnen, Palästinenser und Palästinenserinnen. Wir sagen: Wir erlauben es nicht, dass die Welt unsere Geschichte schreibt. Die Dunkelheit ist überall, sie macht uns Angst. An Chanukka aber sehen wir wieder das Licht. Und das Licht in Neukölln ist besonders hell. Das Licht kommt von den Organisationen, die unseren Kiez besser machen, das Licht kommt von Ihnen allen hier. Das ist die Zeit, um unser Bestes zu geben. Also, lasst uns ein bisschen mehr Licht in unseren Kiez bringen!"

Viele Muslime verurteilen den Judenhass

Nach der Rede umarmt ihn Seyran Ates, die Berliner Anwältin und Gründerin der liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Moabit. "Mir ist es wichtig, hier zu sein, weil ich zeigen will, dass es viele Muslime gibt, die den Judenhass verurteilen. Wir stehen hier an der Seite der jüdischen Gemeinden", sagt sie.

Auch Hutifa Al-Mashhadany ist gekommen. Er leitet eine der größten säkularen Sprachschulen für Arabisch in Berlin mit über 800 Schülern. "Wir wollen diese Gewalt hier in Deutschland nicht. Wir wollen keinen Hass auf den Straßen. Keine Hamas, keine Terroristen", sagt er. Er hat eine Erklärung von 36 arabischen Vereinen initiiert, in ihr wird die Terrororganisation verurteilt. Auf seinem Handy zeigt er Fotos aus einer seiner Arabischklassen. Gemeinsam lernen dort jüdische und muslimische Kinder, man sieht sie fröhlich zusammen auf Ausflügen und im Klassenraum.

Jeremy Borovitz tanzt derweil mit Kindern zu Klezmer-Musik, es werden Donuts und koscherer Glühwein gereicht und alles wirkt für einige kurze Momente ausgelassen und einfach in Neukölln.

Fühlt er sich wieder sicher hier?

Borovitz denkt ein wenig nach. "Nicht so sicher wie noch am 6. Oktober. Aber ich werde mich nicht mehr verstecken."