Frau Tekkal, Sie kämpfen für Frauenrechte weltweit und erheben Ihre Stimme für diejenigen, die selbst nicht die Möglichkeit haben, laut zu werden. Wann haben Sie Ihr Ziel erreicht?
Das ist sowas wie die Konfrontation meines Lebens. Immer wieder fragen mich Leute, wann es mir denn endlich mal reicht. Aber auch dieser Teil meines Weges macht mich stark, denn ich bin noch lange nicht am Ziel. Mein Mitgefühl gebührt den Frauen, die sich noch immer davon abhalten lassen, ihre Meinung zu sagen und dadurch verstummt sind, statt ihre Potenziale auszuleben. Ich möchte zeigen, dass es auch anders geht, anderen Frauen Kraft und Zuversicht geben.
Zur Person
Der Völkermord an den Jesiden durch den IS (Islamischer Staat) im Jahr 2014 machte aus der Kriegsberichterstatterin Düzel Tekkal eine Menschenrechtsaktivistin. Sie gründete HÁWAR.help, weil sie aktiv etwas gegen die Ausbeutung von Menschen – vor allem von Frauen – tun wollte. Heute leitet ihre Organisation Hilfsprojekte in Irak, Iran und Afghanistan.
Düzen Tekkal selbst zählt durch ihr Engagement zu einer der einflussreichsten und lautesten Menschenrechtsaktivistinnen Deutschlands, hat engen Kontakt in die Politik und spricht regelmäßig vor dem Bundestag.
Ihr neuestes Projekt: In der YouTube-Serie "Challenge The Default: Voices" von Mozilla Firefox setzt sie sich an der Seite von Persönlichkeiten wie Riccardo Simonetti und Esther Perbandt für ein authentisches Leben ein.
Kraft für den Kampf gegen das Patriarchat?
Ich werbe für das Matriarchat. Das bedeutet nicht automatisch, dass ich gegen das Patriarchat bin, sondern gegen die alte Welt. Gegen Machtspiele, Kriegsführung auf Kosten von Frauen und die systematische Unterdrückung eines ganzen Geschlechts, die tatsächlich noch an vielen Orten der Welt stattfindet. Um das zu ändern, brauchen wir natürlich auch Männer an unserer Seite – vor allem die richtigen Männer.
Was für Männer braucht es für das Matriarchat?
Feministische Männer. Also diejenigen, die von starken Frauen erzogen worden sind und die entsprechenden Werte vorgelebt bekommen haben. Männer, die nicht nur sagen, sie seien Feminist, sondern ihren Worten auch Taten folgen lassen. Leider gibt es davon noch nicht so viele, wie wir uns wünschen würden. Dabei sollte es langsam bei allen angekommen sein, dass es um einen universalistischen Kampf geht. Durch die Abschaffung der Geschlechterungerechtigkeit machen wir die Welt für alle besser.
Für eine Veränderung, wie Sie Ihnen vorschwebt, müssen vor allem Männer an sich arbeiten. Und die Frauen? Machen die einfach weiter wie immer?
Es ist mitnichten so, dass Frauen die besseren Menschen wären. Es gibt Frauen, die sich genauso toxisch gegenüber anderen Frauen verhalten, wie manche Männer. Das verletzt mich dann manchmal sogar noch mehr. Mich interessiert in der Feminismusfrage vor allem, was für ein Mensch jemand ist, was für ein Mensch jemand sein möchte.
Viele Frauen fahren trotzdem, Sie erwähnten es, die Ellbogen gegeneinander aus. Woher kommt diese Frauenfeindlichkeit?
Es gibt diesen Spruch: "Wer nicht lieben kann, der wird hassen." Das klingt zwar drastisch, aber oft hetzen die Frauen gegen andere Frauen, die selbst nicht den Mut haben, für sich einzustehen. Dadurch positionieren sie sich in unserem patriarchalen System besser. Dabei habe ich für mich in den letzten Jahren festgestellt, dass ich keinen Mann mehr brauche, um weiterzukommen im Leben.
Sie haben den Männern abgeschworen?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich liebe Männer. Ich bin keine dieser Frauen, die Männer hasst oder so. Aber ich brauche sie nicht für mein berufliches Fortkommen. Ich kann selbst für mich einstehen und vorankommen. Das hat etwas sehr Befreiendes. Und ich sage Ihnen eins: Das war am Anfang meiner Karriere noch anders. Da musste ein Mann gut finden, was ich mache. Diese Zeiten sind vorbei.

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Sie genießen durch Ihre Position ein gewisses Ansehen in der Gesellschaft und haben dadurch mehr Möglichkeiten. Das trifft nicht auf alle Frauen hierzulande zu.
Das stimmt, ich spreche da von einer sehr privilegierten Warte raus. Viel zu viele Frauen sind noch immer auf die Gunst eines Mannes angewiesen. In diesem Zusammenhang müssen wir unbedingt die Geldfrage stellen. Meine Mutter hat mir schon früh gesagt, mach dich niemals abhängig von einem Mann. Sie meinte damit vor allem die finanzielle Abhängigkeit. Und seien wir ehrlich: Ohne Moos nix los. Solange Frauen finanziell abhängig von ihrem Partner sind, ist eine emotionale Unabhängigkeit nahezu unmöglich. Das macht auch etwas mit unserem Selbstbewusstsein.
Laut sein, wenn andere leise sind, das kommt nicht nur gut an. Sie werden immer wieder kritisiert. Wie gehen Sie damit um?
Das hat viel mit Urvertrauen zu tun. Ich habe durch meine jesidische und kurdische Kultur früh verstanden, dass ich Widerstand bekomme, sobald ich etwas riskiere und mich aus meiner Komfortzone bewege. Es ist am Ende egal, was wir machen – irgendwer wird damit nicht zufrieden sein. Das muss man akzeptieren. Ich verstehe diese Disharmonie mittlerweile als Art Kompliment, weil sie zeigt, dass ich wirke. Ernsthafte Kritik nehme ich mir dafür persönlich zu Herzen – weil ich sowohl privat als auch öffentlich der gleiche Mensch bin.
Wir bekommen also immer die ungefilterte Düzen Tekkal zu sehen?
Genau. Das ist meine größte Stärke und mein größtes Dilemma. Auf der einen Seite ist die Filterlosigkeit maximal authentisch und entspricht meinen Werten. Sie macht mich gleichzeitig wahnsinnig verletzlich. Mein Purpose, mein Lebensziel, ist mein Schutzschild. Solange ich voller Selbstachtung in den Spiegel schauen kann und mich nicht mehr selbst enttäusche, bringt mich so schnell nichts mehr ins Wanken.
Seit dem Krieg in Gaza berichten Sie von expliziten Morddrohungen. Was machen solche Drohungen mit Ihnen?
Diese Drohungen bedienen eine Urangst, die ich als jesidische und kurdische Frau ohnehin in mir trage. Das war es aber auch, was mir geholfen hat: Seit ich denken kann, gibt es Menschen, die sich meinen Tod wünschen, immer wieder werden Jesidinnen entmenschlicht, wir sind von Scharfschützen umgeben. Aber es geht darum, den Schützengraben zu verlassen und diese Spaltungsdynamiken zu überwinden. Dieser Überlebenskampf hat mich so stark gemacht.
Sie sprechen gerne von einer globalen Schwesternschaft, wenn es um die Überwindung von Gräben geht. Was haben Sie von Ihren eigenen Schwestern über das Frausein gelernt?
Sehr viel. Stärke, Fürsorge, Solidarität, Selbstaufopferung, Liebe. Ich habe das Privileg, in einem Nest zu leben. Eigentlich bin ich so gut wie nie allein, immer ist jemand aus meiner Familie in der Nähe. Diese Schwesternschaft geht aber weit über unsere Kernidentitäten hinaus. Wir können uns immer aufeinander verlassen, leiden und feiern miteinander – das ist schon ein großes Geschenk. Ich bin davon überzeugt, dass so etwas jeder von uns haben kann.
Nicht jeder hat das Glück, eine große Familie zu haben…
Unsere spirituelle Familie suchen wir uns aus. Und wir sollten uns Menschen in unser Umfeld holen, bei denen wir sicher sein können, dass sie für uns einstehen, auch wenn wir den Raum mal verlassen. Diese Form der Solidarität lässt sich nicht erzwingen, aber sie sollte zu unserem inneren Anspruch werden.
Was ist Ihr Anspruch an sich selbst?
In erster Linie möchte ich den Frauen vor Ort konkrete Hilfe leisten. Das machen wir zum Beispiel mit unseren Frauenhäusern in Afghanistan. Der Verlust ihres Zuhauses bedeutet für sie den Wegfall einer Lebensperspektive. Und da bin ich bei Hannah Arendt. Sie sagte einmal, ihr wurde der Weltbezug genommen. Und ohne Weltbezug bist du nicht lebensfähig. Genau das passiert gerade in vielen Ländern. Umso dankbarer bin ich für die Männer vor Ort, die uns dabei helfen, den Frauen einen Safe Place zu bieten. Auch sie riskieren damit den Zorn der Taliban. Es geht darum, Räume zu schaffen, in denen die Frauen ihre Biografien wieder selbst schreiben können.
Was sind das für Lebensläufe, die die Frauen in Afghanistan schreiben würden, würde man sie lassen?
Diese Frauen wollen das Gleiche wie wir, aber derzeit können sie nur Horror-Geschichten erzählen. Sie möchten ihre Freiheit, ihre Würde zurück. In den Gefängnissen sitzen Juristinnen, Politikerinnen, Menschenrechtsaktivistinnen – sie alle haben den Duft der Freiheit bereits eingeatmet. Und dann wurde ihnen all das wieder aus den Händen gerissen. Das ist ein Leid, das man sich hierzulande nicht vorstellen kann.
Wenn wir schon einmal bei Biografien sind: Was für ein Leben haben Sie sich als Kind gewünscht?
Genau das Leben, das ich führe. Ich habe schon als kleines Mädchen von einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmtheit geträumt. Als Mama habe ich mich zum Beispiel noch nie gesehen, stattdessen habe ich politische und gesellschaftliche Wirkungsräume gesucht. Ich wollte mehr vom Leben, etwas bewegen. Meine Schwestern erzählen heute noch, wie ich damals auf der Bettkante saß und ihnen die Welt erklärt habe. Und wie ich damals gesagt habe, dass wir gemeinsam etwas Großes starten, wenn wir erwachsen sind. Die haben mich deshalb immer Düsenjäger genannt – und ausgelacht. Aber genau dieser Düzen bin ich heute so dankbar, dass sie sich trotz Hürden all ihre Träume erfüllt hat. Und das heißt nicht, dass ich auf meinem Weg nicht auch gescheitert bin. Ich habe nur gelernt, an meinen Fehlern zu wachsen.
Was würden Sie den Frauen dieser Welt mit auf den Weg geben, wenn Sie nur einen Satz zur Verfügung hätten?
Mach einfach. Weil: Das Schlimmste ist, nichts machen. Trau dich, deine Träume zu verfolgen. Und dann schau, was passiert.