Jagoda Marinić Groß bleiben!

Jagoda Marinić, geboren 1977 im schwäbischen Waiblingen, Arbeiterkind, Schriftstellerin – und nun Kolumnistin beim stern
Jagoda Marinić, geboren 1977 im schwäbischen Waiblingen, Arbeiterkind, Schriftstellerin – und nun Kolumnistin beim stern
© Gaby Gerster
Die Pandemie verzwergt uns alle. Unsere neue Kolumnistin fühlt sich kleingeschrumpft und fragt sich, ob dagegen wirklich Nostalgie hilft.

Mitten in einer Pandemie fange ich mit einer neuen Kolumne an. Meine wunderbare Vorgängerin, Meike Winnemuth, sagte zum Abschied über das Kolumnieren: "Man pult sich eine Fluse aus dem Bauchnabel und füllt damit eine Seite."

In diesem meinem Bauchnabel befinden sich nur leider dank reduzierter Kontakte und coronakonformen Lebens weniger Flusen denn je. Ich verfolge täglich die neuen Inzidenzen, prüfe neurotisch, was ich noch guten Gewissens tun kann, ohne andere zu gefährden, und versuche den Wahnsinn, der sich aus der Monotonie ergibt, wegzuorganisieren.

Ich bin keine große Nostalgikerin, ich liebe das Ungewisse. Doch mit dem zweiten Corona-Jahr schlich sich eine merkwürdige Sehnsucht nach früher ein. Ich fürchte, das geht nicht nur mir so. Nostalgie ist der Zeitgeist der Stunde.

Nur mit Nostalgie lässt sich erklären, weshalb Thomas Gottschalk Ende vergangenen Jahres mit einem totgesagten Format wie "Wetten, dass ..?" in Millionen deutschen Haushalten über den Bildschirm flimmerte. Noch eine Prise Michelle Hunziker, und fertig war das Nostalgie-Bonuspaket für all die Pandemiezermürbten.

Mein entnervtes Nostalgie-Ich

Nicht nur wir Deutschen flüchten ins Gestern. In den USA legte man die Serie "Sex and the City" nach 23 Jahren neu auf. Sarah Jessica Parker als Carrie Bradshaw, die in ihren High Heels durch Manhattan stakst, bis sie sich spätnachts an ihren kleinen Apple setzt, um über das Leben im Big Apple zu schreiben. Sie starrt aus dem Fenster und stiehlt sich die schönsten Sätze von den Hochhausdächern, dachte ich damals und liebte es.

Kolumnistin war Ende der Neunziger noch ein glamouröser, serientauglicher Beruf. Heute ginge es mit einer Kolumnistin im Serienzentrum eher um Hate Speech als um Sex. Noch bevor die Serie erfolgreich anlief und wir in aller Ruhe über den Sex im Alter lästern konnten, hatte der männliche Hauptdarsteller Chris Noth einen #MeToo-Skandal am Hals. Seine drei Kolleginnen distanzierten sich umgehend von ihm.

Verstehen Sie mich nicht falsch: #MeToo ist wichtig. Ich habe ein Buch darüber geschrieben, aber in dem Moment der Meldung sagte mein Nostalgie-Ich nur noch entnervt: Die Realität ist auch nicht mehr das, was sie mal war.

Ohnmacht und Hoffnung in dieser Zeit

Wie soll man nicht nostalgisch werden? Noch ein Weihnachten, an dem wir nicht wussten, ob wir geliebte Menschen gefährden; der zweite Winter, in dem Krankenhäuser am Limit arbeiten und keiner weiß, wie lange noch. Mit jedem Tag, den die Lage anhält, verstärkt sich das Gefühl, dass uns die Kontrolle entglitten ist. Vielleicht hatten wir sie nie, aber man konnte ganz gut leben mit der Illusion.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Ich erinnere mich an die weltweite Begeisterung über das Cover des Magazins "The New Yorker" nach dem Lockdown. Auf dem Titel war eine große, schwarze Wohnzimmertür zu sehen, die einen Spalt breit offen steht. Durch die Öffnung fällt helles Tageslicht, man sieht die Skyline von Manhattan und eine vierköpfige Familie, die zaghaft den Weg zurück ins Licht wagt, alle wie kleingeschrumpft, Hand in Hand. Welch irres Bild für die Ohnmacht und Hoffnung in dieser Zeit. Wir sind durch diese Pandemie alle verzwergt worden.

Wie soll man groß bleiben in dieser Zeit? Wohin mit der Angst, die Tür zur Welt könnte wieder zufallen? Es scheint derzeit leichter, sich Expertise im Bereich der Virologie anzueignen, als Empathie für das erschöpfte Ich zu empfinden.

Egal, wie oft wir uns anschreien, egal, ob Lauterbach Twittermeister oder Gesundheitsminister ist: Niemand weiß, was als Nächstes folgt.

Und jetzt leben damit!

Jagoda Marinić
© Gaby Gerster

Jagoda Marinić

Die Schriftstellerin und Politologin Jagoda Marinić („Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?“, „Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“) schreibt alle zwei Wochen – im Wechsel mit Micky Beisenherz – im stern.

Jagoda Marinić freut sich, von Ihnen zu hören. Schicken Sie Ihr Lob, Ihre Kritik oder Anregungen per E-Mail an marinic@stern.de.

Erschienen in stern 2/2022