Manchmal muss man Dinge schildern, die wehtun, damit sich etwas ändert.
Also: Februar 2024, eine Klinik mitten in Deutschland. Es ist früher Abend, als ein Notfall ausbricht. In der Notaufnahme liegt ein Säugling, das Kind trinkt nicht mehr, ist geschwächt. Die Ärzte stellen in einer Ultraschalluntersuchung ein Herzversagen fest. Sie müssen den Säugling sogar reanimieren. Das klappt. Aber das Kind hat nur einen schwachen Blutdruck. Es braucht dringend eine spezielle Herz-Lungen-Maschine. Aber in dieser Klinik gibt es eine solche Herz-Lungen-Maschine nicht, dafür ist sie zu klein. Also rufen die Ärzte in größeren Kliniken an, wo Therapien dieser Art angeboten werden. Mindestens sechs große Zentren werden angefragt, aber nirgendwo klappt es. Der Grund: fehlende Ressourcen, die meisten sagen ab, weil sie kein freies Bett haben, das Pflegepersonal fehlt. Es dauert bis zum nächsten Morgen, bis endlich ein Team mit einer geeigneten Herz-Lungen-Maschine bei dem Kind ankommt. Aber das Kind ist schon zu geschwächt. Es stirbt kurz darauf.
Ein Fall aus Deutschland. Aus einem der reichsten Länder dieses Planeten.
Die Krise der Kindermedizin wird kaum beachtet
Der stern hat in einer monatelangen Recherche dokumentiert, wie gravierend die Krise der Kinderintensivmedizin hierzulande ist. Überall bleiben Stellen in der Pflege unbesetzt und damit Betten leer. Das Kind aus der Notaufnahme ist nur ein besonders drastisches Beispiel aus einer ganzen Reihe von Fällen, die zeigen, dass das System der Kinderintensivmedizin nicht mehr allen Kindern so helfen kann, wie sie es bräuchten.
Es gibt gerade eine Menge Krisen, sie schaffen es unentwegt in die Nachrichten. Doch die Krise der Kindermedizin ist eine, die kaum beachtet wird.
Inflation, Stau, extremes Wetter, das spürt fast jeder. Ein fehlendes Bett auf einer Kinderintensivstation – spürt man nicht. Das ist das Problem der anderen. Es ist nur so, dass man schnell selbst der andere werden kann. Ein Unfall, ein schwerer Infekt, was auch immer, dann braucht das eigene Kind, das Enkelkind, die Nichte, der Neffe auch ein solches Bett.
Und plötzlich geht es um alles, um das Leben eines Kindes.

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Notfall Kindermedizin
Der stern berichtet in einem Schwerpunkt zur Krise in den Kinderkliniken. Auf unserer Website, unter www.stern.de/kindermedizin, finden Sie weitere Interviews, Reportagen und Videos zum Thema.
Was muss passieren?
Sie selbst sind als Pflegekraft oder Arzt in einer Kinderklinik tätig und Ihnen ist es ein Anliegen, über die Folgen der Mangelversorgung und mögliche Lösungsansätze zu sprechen, melden Sie sich bitte unter kindermedizin@stern.de
Das Absurde an dieser Krise ist, dass sie sich lange angekündigt hat. "Pflegemangel" ist längst ein abgenutztes Wort, es lässt niemanden mehr zucken. An Krisen, die sich anschleichen, gewöhnt man sich, man passt sich sogar an, wie die Kinderkliniken, die in den vergangenen Jahren gelernt haben, mit weniger Personal immer schneller zu arbeiten, den sogenannten "Durchsatz" an Kindern zu erhöhen, damit alle irgendwie doch noch versorgt werden. Aber dieses Heißlaufen ist jetzt an seine Grenze gekommen, die Kinder können einfach nicht noch schneller gesund werden, viele Pflegekräfte geben erschöpft auf, was die Krise weiter verschärft, die Ärztinnen und Ärzte verzweifeln und rufen jetzt um Hilfe.
Es wäre naiv zu glauben, dass man diesen Missstand leicht beheben könnte. Die Gründe dafür, dass es zu wenige Pflegekräfte in der Kinderintensivmedizin gibt, sind zahlreich: die Demografie; das zu knappe Gehalt; die schwer zu ertragende Belastung in einem System, das am Anschlag ist; aber auch die veränderten Ansprüche einer jüngeren Generation, die sich ihre Jobs aussuchen kann, auch solche, die im Homeoffice erledigt werden können. An diesen Ursachen wird auch die aktuell diskutierte Krankenhausreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nichts ändern. Sie kann dafür sorgen, dass das Geld im System sinnvoller verteilt wird, dass Kompetenzen gebündelt und unnötige Doppelstrukturen abgeschafft werden. Aber das wird die Kinderintensivmedizin nicht retten. Der hilft nur eines: neues hochspezialisiertes Pflegepersonal, und das so schnell wie möglich.
Es fehlt politische Entschlossenheit
Um das zu rekrutieren, braucht es mehr als bisher: stärkere Anreize (auch finanzielle) für angehende Pflegerinnen und Pfleger, genau dort zu arbeiten; flexiblere Arbeitszeitmodelle; einen radikalen Bürokratieabbau, damit sich die verbliebenen Pflegekräfte auf das Wesentliche konzentrieren können; einen schnellen Ausbau der Telemedizin, denn auch in der Intensivmedizin kann sie helfen.
An solchen Ideen mangelt es schon länger nicht. Was fehlt, ist die politische Entschlossenheit, sie umzusetzen.
Es mag kalt und hart klingen, aber es ist keine Polemik, diese Frage zu stellen: Wie viele Kinder müssen noch sterben, wie vielen will man noch die Chance verwehren, schnell gesund zu werden, bis sich endlich etwas ändert?