Kindermedizin in der Krise Alya ist acht Monate alt und herzkrank. Die Ärzte wollen sie operieren – doch ihnen fehlt ein freies Klinikbett

Alya soll am offenen Herzen operiert werden. Alles ist vorbereitet, der Zugang bereits gelegt. Doch dann muss der Eingriff verschoben werden, weil auf der Intensivstation freie Betten fehlen. Über Ärzte und Eltern im Terminchaos – und ein schwer krankes Mädchen, das warten muss. 
Kinderherzchirurgen bei einer Operation an der MHH
Die Kinderherzchirurgen der MHH können Lebensjahre schenken – aber dafür sind sie auf freie Intensivbetten angewiesen
© Patrick Slesiona

Im zweiten Stock der Kinderklinik läuft ein Vater auf und ab. Er reibt sich die Augen. Der Vater, 29 Jahre alt, heißt Melih, sein Nachname soll hier nicht stehen. Melih sagt, er habe die vergangene Nacht nicht schlafen können, so aufgeregt sei er gewesen. Es dämmerte noch, als er in seinem Wohnort Salzgitter ins Auto stieg, um zur Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) zu fahren. Seine Tochter Alya, acht Monate alt, wurde mit einem schweren Herzfehler geboren. An diesem Februarmorgen soll er von Chefarzt Alexander Horke und seinem Team korrigiert werden.

Als Melih nervös über den Klinikflur streift, liegt seine Tochter schon im OP-Saal. Der Eingriff müsste seit einer halben Stunde laufen. Aber Melih glaubt das nicht. Er zieht sein Smartphone aus der Jackentasche und zeigt auf das Gerät. "Die rufen gleich an", sagt er. Melih rechnet damit, dass ihm ein Arzt am Telefon entschuldigend erklären wird, dass die Operation doch nicht stattfinden kann. Er hat bereits erlebt, wie das läuft.

Vor einer Woche war Melih schon einmal hier. Er hatte im Braunschweiger Volkswagen-Werk, wo er als Logistiker arbeitet, für die gesamte Woche Urlaub genommen. Am Morgen vor der Operation hatte er seine Schwiegermutter abgeholt und seine Schwester, die selbst Pflegerin ist, auch sie hatte sich freigenommen. Zusammen waren sie zur MHH gefahren. Sie waren gerade auf der Suche nach einem Parkplatz, als Melihs Frau aus der Klinik anrief. Sie sagte: Die Intensivstation hat kein freies Bett für Alya, wir müssen wieder nach Hause.

Notfall Kindermedizin

Der stern berichtet in einem Schwerpunkt zur Krise in den Kinderkliniken. Auf unserer Website, unter www.stern.de/kindermedizin, finden Sie weitere Interviews, Reportagen und Videos zum Thema.

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Zwei Monate zuvor hätte bereits eine Herzkatheteruntersuchung bei Alya durchgeführt werden sollen. Zweimal hatten sich die Eltern Urlaub genommen, zweimal waren sie nach Hannover gefahren. Sie hatten miterlebt, wie Alya ein Zugang in eine Vene gelegt und sie sediert wurde. Und wie der Eingriff dann doch im letzten Moment verschoben werden musste. Erst beim dritten Termin war er zustande gekommen.

Chefarzt Alexander Horke leitet die Chirurgie angeborener Herzfehler an der MHH. Sie ist ein wichtiger Schwerpunkt der Klinik. Horke und sein Team sorgen mit ihren Eingriffen dafür, dass ein Großteil der jungen Patienten das Erwachsenenalter erreicht. Die Kinderherzchirurgen machen einen Unterschied, sie können Lebensjahre schenken. Aber dafür sind sie auf freie Intensivbetten angewiesen.

Chefarzt Alexander Horke an der MHH
Chefarzt Alexander Horke leitet die Chirurgie angeborener Herzfehler an der MHH
© Patrick Slesiona

Wenn ein schwer krankes Kind am Herzen operiert wird, muss es danach intensivmedizinisch versorgt werden. Horke und seine Kollegen stellt das vor Probleme. "Die Kapazitäten auf den Stationen sind wegen des Pflegemangels geringer geworden", sagt Horke. "Dadurch, dass wir immer weniger Betten haben, können wir immer weniger operieren." Viele der Operationen, die der Chefarzt mit seinen Kollegen durchführt, werden weit im Voraus geplant. "Die Wartezeit hat sich enorm verlängert", sagt er. "Inzwischen ist es normal, ein halbes Jahr auf die Operation zu warten." 

Muss die Station 67, die Kinderintensivstation der MHH, kurzfristig schwer kranke Kinder aufnehmen, die besonders dringend Hilfe brauchen, geraten die Planungen manchmal durcheinander. Wenn das ausgedünnte Pflegepersonal nicht so viele Betten betreuen kann, dass sich sowohl Notfälle als auch OP-Patienten versorgen lassen, kann es passieren, dass es eine geplante Herzoperation verschoben werden muss. "Als Chirurgie haben wir eine totale Abhängigkeit von der Situation auf den Stationen", sagt Horke.

An dem Morgen im Februar steht Alyas Vater Melih auf dem Klinikflur und wartet darauf, dass sein Telefon klingelt. Die Aufregung, die schlaflose Nacht, der eingereichte Urlaub, war das alles erneut umsonst? Wird Alya wieder nicht operiert?